Analyse von Olivier de Berranger, CIO bei LFDE:
In den USA ziehen die Verbraucherpreise stark an: +5 % im Mai gegenüber dem Vorjahr. Und wie reagierten die Märkte, nachdem sie von dieser Neuigkeit erfuhren? Sie beruhigten sich bereits nach kurzer Zeit. Noch erstaunlicher: Die Anleihenrenditen stiegen nicht wie befürchtet, sondern schlossen den Handelstag sogar niedriger!
Inflationsanstieg wenig überraschend
Eine Erklärung dafür ist, dass die Daten einen starken Anstieg der Inflation erwarten ließen. Die tatsächliche Zahl war zwar niedriger als erwartet, aber keine große Überraschung. Überdies musste ein mechanischer Basiseffekt infolge der jähen Rezession im Frühjahr 2020 zwangsläufig ein Jahr später zu einem höheren Wert führen. Betrachtet man darüber hinaus die Inflation ohne volatile Komponenten (Lebensmittel und Energie), bleibt das Niveau zwar hoch, mit 3,8% jedoch etwas niedriger. Gleichwohl ist dies der höchste Stand seit 30 Jahren. Vor allem aber teilen die Anleger die Ansicht der Zentralbanken, dass diese Inflation vorübergehend ist. Denn sie betrifft derzeit nur bestimmte Sektoren wie z.B. Gebraucht- und Mietwagen sowie einige Bereiche des Immobilienmarktes wie etwa Lagergebäude. Die Inflation erstreckt sich nicht auf die Löhne – ganz im Gegenteil. Denn diese sind in „realen“ Zahlen um 2,8% zurückgegangen. Nichts könnte den Markt mehr erfreuen: Die Löhne sinken, während die Wirtschaft brummt!
Abschwächung der Lohn- und Mietpreisdynamik nur Augenwischerei?
Allerdings ist dieser scheinbare Rückgang der Löhne in den USA teilweise Augenwischerei. Dass sie insgesamt sinken, liegt auch daran, dass die am schlechtesten vergüteten Arbeitnehmergruppen zurück am Arbeitsmarkt sind. Sobald die durch die Wiederbelebung der Wirtschaft bedingte Flut an Neueinstellungen abgeebbt ist, könnte sich die echte Lohndynamik als stärker erweisen. Auch die scheinbare Abschwächung der Mieten könnte sich als Täuschung herausstellen, da sie zum Teil mit der ausgesetzten Zwangsräumung von Mietwohnungen zusammenhängt. Im Juli laufen diese Regelungen aus, und die Preise könnten dann deutlich volatiler werden. Auch wenn überdies die Preissteigerung bei bestimmten Gütern durch vorübergehende Faktoren bedingt ist, wie z.B. den Engpass bei elektronischen Chips oder einigen Metallen, gibt es keine Gewähr dafür, dass die Preise rasch wieder sinken werden. Zumal sich die Nachfrage nach Metallen mit der Umstellung auf Elektrofahrzeuge und den strengeren Abgasnormen verstärken dürfte. Doch auch diese Risiken können die Anleger nicht beirren.
Konkrete Zahlen statt Prognosen: Zentralbanken mit neuer Haltung
Die Zentralbanken können also weiterhin Liquidität in den Markt pumpen und gleichzeitig die Inflationsprognosen anheben – eine auf den ersten Blick widersprüchliche Haltung. Doch das hat die Europäische Zentralbank auf ihrer Sitzung vom 10. Juni getan. Bereits auf ihrer März-Sitzung korrigierte sie die geschätzte Inflation in der Eurozone für 2021 von 1% auf 1,5% und nun auf 1,9%, also genau auf ihr Idealniveau. Längerfristig erwartet sie jedoch weiterhin eine unzureichende Inflation von 1,4% bis 2023. Dies rechtfertigt ihren derzeitigen Aktionismus, zumal die Zentralbanken ihre Haltung gegenüber den Konjunkturprognosen geändert haben. Sie warten nun ab, bis für einen gewissen Zeitraum konkrete Zahlen zum Tempo der Inflation – und hinsichtlich der Fed auch zur Beschäftigung – vorliegen, anstatt sich auf Prognosen zu stützen.
In gewisser Hinsicht ist dies klug: Das Handeln auf der Grundlage von unsicheren Prognosen birgt das Risiko von Fehlentscheidungen. Zu weit getrieben, ist dieses Vorgehen nach unserer Auffassung jedoch unverantwortlich. Die Zentralbanken laufen Gefahr, den Zyklen stets hinterherzulaufen. In jedem Fall werden sie sich immer fragen müssen, ob die beobachteten Trends nachhaltig sind oder nicht. Nur die Unsicherheit ist sicher. Handeln ist riskant. Nichts riskieren zu wollen, ist es gleichermaßen.
In einigen Monaten werden wir es wissen. Die Zentralbanken – und die ihnen folgenden Märkte – werden entweder weitsichtig oder naiv gewesen sein. In jedem Fall werden sie mit Macht und Geschick günstige Finanzierungsbedingungen aufrechterhalten, um die Wirtschaft nicht zu schädigen. Die Zukunft der Börsen ist also ungewiss, liegt aber zumindest in den Händen von Experten. So wie das brennende Rom in den Händen von Nero?
Die Fondsgesellschaft LFDE wurde 1991 in Frankreich gegründet und konzentriert sich auf Investments in europäische und internationale börsennotierte Unternehmen. LFDE ist in Deutschland, Spanien, Italien, der Schweiz und in den Benelux-Ländern vertreten und verwaltet zum 31.12.2019 Vermögen in Höhe von rund 10 Milliarden Euro.