Börse

Diversifikation ist leider keine Vollkasko-Versicherung

Lesezeit: 7 min
01.08.2022 11:16
Auch gut konstruierte Portfolios geraten mal in Turbulenzen: Finanzexperte Ali Masarwah rät im Interview mit Altersvorsore Neu Gedacht Langzeitanlegern, auf Zeit und Diversifikation zu setzen. Und verrät, welches Minimum an Hausaufgaben Anleger in diesen turbulenten Zeiten erledigen sollen.
Diversifikation ist leider keine Vollkasko-Versicherung
Die aktuelle Marklage scheint Anlagegesetze außer Kraft zu setzen. (Foto: iStock.com/utah778)
Foto: utah778

Beginnen wir mit dem Positiven: Die Börse Beirut ist bislang in diesem Jahr hervorragend gelaufen. Libanesische Aktien gehören zu den großen Gewinnern an den Finanzmärkten im ersten Halbjahr 2022: mit einem Gewinn von knapp 50 Prozent. Besser war sogar noch Nordsee-Rohöl, mit über 50 Prozent Rendite. Mais und Weizen liefen auch prima, und die Börse Istanbul konnte ebenfalls zulegen. So gibt es das Handelblatt bis zum 30. 6. 2022 wieder.

Wenn Sie aber nicht mit Rohstoff-Futures traden oder als Aktien-Spekulant zugleich die Entwicklung von libanesischem Pfund und türkischer Lira im Auge behalten – wenn Sie außerdem keine Glaskugel besitzen, die Ihnen die Zukunft zeigt, dann werden Sie bei solchen Nachrichten nur mit den Schultern zucken. Und das zu Recht.

Da Sie auf dieser Seite lesen, gehören Sie wohl zu den interessierten Privatanlegern, die für ihr Alter vorsorgen wollen. Sie wollen nicht zocken, sondern ein vernünftiges Verhältnis von Risiko und Rendite erreichen. Sie wissen, dass man breit gestreut investieren soll, und das möglichst kostengünstig. Sie wissen auch, dass ein robustes Portfolio aus mehreren Anlage-(Asset-)Klassen besteht, die sich gegenseitig stabilisieren, und dass man sein Depot in einen risikoarmen und einen risikobehafteten Bereich teilen sollte. Typischerweise nimmt man dazu Aktien und Anleihen.

Auch gut konstruierte Portfolios geraten mal in Turbulenzen

Und damit kommen wir zur schlechten Nachricht: Das hätte in diesem Jahr bisher nichts geholfen. Üblicherweise sollen Anleihen und Aktien sich ausgleichen, weil sie sich gegenläufig entwickeln (gering oder negativ korrelieren). Wie war es aber in diesem Jahr? Laut Grafik des Handelsblatts sind im Minus: Staatsanleihen aus den USA, aus Deutschland und aus den Schwellenländern, außerdem Unternehmensanleihen der Eurozone mit guter und schwacher Bonität. Ebenfalls gefallen sind die Kurse von Aktien aus Schwellen- und Industrieländern. Auch der Bitcoin hat verloren, und mit Stichtag zum 25. Juli ist auch Gold im Minus: über 4 Prozent.

Musterportfolios von Experten sind ebenfalls seit Jahresanfang (bis zum 25. Juli) im Minus. Sie vereinen mehrere Asset-Klassen und gelten eigentlich als gut austariert für Krisenfälle:

  • Die bewährte Aufteilung „60 Prozent Aktien / 40 Prozent globale Staats- und Unternehmensanleihen“ (hier von Vanguard) ist in diesem Jahr mehr als 8,5 Prozent im Wert gefallen.
  • Das Allwetter-Portfolio von Ray Dalio trägt sein Programm im Namen. Seit Jahresanfang ist es trotzdem mit knapp 4 Prozent im Minus.
  • Ein defensives Pantoffel-Portfolio von Stiftung Warentest / Finanztest hat im laufenden Jahr mehr als 10 Prozent verloren.
  • Eine Nachbildung des Norwegischen Staatsfonds erzielt einen Verlust von knapp 8 Prozent.
  • Ein nachgebauter ARERO-Fonds (Aktien, Renten, Rohstoffe) hat fast 4 Prozent verloren.

Zugleich beträgt die Inflation im Euroraum derzeit knapp 9 Prozent. Die verliert man momentan, wenn man sein Geld gar nicht anlegt, sondern als Cash halt.

Was tun, wenn die wichtigen Anlageklassen fallen?

Was kann man da machen? Wo soll man sich noch verstecken? Wenn man der (gut begründeten) Ansicht folgt, dass Krypto-Währungen zu spekulativ sind, um sie für die Altersvorsorge einzusetzen, dann bleiben vier Anlageklassen für durchschnittliche Privatanleger. (Exotische Asset-Klassen wie Wein, Gemälde, Acker- und Forstland … lassen wir außer Acht.) Das sind Aktien, Anleihen, Rohstoffe (mit Gold) und Immobilien. Grundsätzlich gilt: Mal läuft die eine Anlageklasse besser, mal die andere. Ändert sich das Gewicht unter den Asset-Klassen zu sehr, kann man es wiederherstellen (Rebalancing) und damit schon etwas antizyklisch agieren.

Sollte man Immobilien hinzunehmen? Eine Immobilie erwirbt man normalerweise nicht extra, um sie in ein Portfolio zu integrieren. Manche Privatanleger bilden diese Anlageklasse über Immobilienaktien (REITs) ab. Allerdings sind das auch Aktien, die sich ähnlich wie die aus anderen Branchen entwickeln. Und in Indexfonds (ETFs) auf breit gestreute Indizes sind Immobilien-Aktien bereits enthalten.

Bleiben also drei Asset-Klassen: Aktien und Anleihen sollten auf jeden Fall im Depot enthalten sein. Manche beschränken sich auf Gold, wenn sie noch etwas hinzufügen. Gold ist streng genommen kein Rohstoff (wird kaum weiterverarbeitet) und korreliert gering (entwickelt sich gegenläufig) mit anderen Anlage-Klassen. Allerdings waren in diesem Jahr andere Rohstoffe der „Renner“. Zwar weiß keiner, wie das weiterläuft, aber bislang konnte ein breiter Rohstoffkorb Verluste seit Jahresbeginn dämpfen.

Was empfiehlt Finanz-Experte Ali Masarwah?

Wir haben Ali Masarwah gefragt, wie ein Portfolio aussieht, das auch Krisen übersteht, und ob sich seit Beginn des Jahres etwas an den Regeln geändert hat. Masarwah war zehn Jahre lang Chefanalyst und -redakteur bei Morningstar, einem Unternehmen für Finanzinformationen und -analyse, und ist seit Mai 2021 Partner und Chefredakteur beim Frankfurter Finanzdienstleister Envestment Services / Portal Envestor.

Altersvorsorge Neu Gedacht: Wie konstruiere ich ein robustes Portfolio, wenn mehrere wichtige Asset-Klassen seit Jahresbeginn gefallen sind? Ändert sich etwas an den bekannten Spielregeln?

Ali Masarwah: Nein, die Spielregeln bleiben die gleichen. Langfristig investieren, anhand der finanziellen Ziele und der Risikotragfähigkeit strategisch anlegen, nicht durch Marktvolatilität aus der Fassung bringen lassen.

Das schließt natürlich nicht aus, dass man taktisch feinsteuern kann – etwa in Gestalt eines außerplanmäßigen Rebalancings, um günstigere Bewertungen bzw. attraktive Risikoprämien einzufangen. Der langfristige Renditerückgang (bei Anleihen, Anmerkung Red.) hat die Asset-Preise in den meisten Risiko-Assets nach oben getrieben, der jetzige Renditeanstieg könnte also eine gute Gelegenheit sein, wieder mehr Risiko zu nehmen, jedenfalls dann, wenn man der Meinung ist, dass die hohen Sparquoten früher oder später wieder die Renditen drücken werden.

Was mache ich, wenn breite Diversifikation und günstige Kosten das Depot nicht vor Verlusten von Anleihen und Aktien zugleich schützen? Und zuletzt auch von Gold? Ganz zu schweigen von Krypto-Währungen? Und wenn Bargeld durch die hohe Inflation an Wert verliert?

Diversifikation wird leider oft dergestalt missverstanden, dass sie eine Vollkaskoversicherung darstelle. Das ist nicht der Fall. Diversifikation kann Verluste nicht verhindern, mindert aber die Volatilität von Portfolios, die aus Risiko-Assets bestehen. Das ist echter Mehrwert, weil dann die (negativen) Schwankungen in schwachen Märkten die Langfristrendite weniger stark beeinträchtigen.

Mit Blick auf die gewählten Asset-Klassen sollte man indes wählerisch sein. Aktien und Anleihen sind gesetzt, es spricht viel dafür, dass Gold ein guter Diversifikator ist (man nennt Gold auch gerne „Katastrophen-Hedge“), ebenso wie breit diversifizierte Rohstoffkörbe.

Cash gehört zumindest in Zeiten hoher Inflation indes eher nicht zum strategischen Kern, Kryptos definitiv auch nicht, weil hier die Gefahr eines Totalverlusts besteht, und soweit wollen wir es mit dem Risiko dann doch nicht betreiben.

Und wenn man in seinem Depot nicht dauerhaft auf Öl, Gas oder libanesische Aktien spekulieren möchte? Hilft dann nur noch die vierte Dimension, die Zeit? Oder gibt es andere Wege der Konstruktion als etwa das Allwetter-Portfolio von Ray Dalio, den ARERO oder das 60/40-Portfoliio von Vanguard? Ändert sich dauerhaft etwas an der Korrelation der Anlageklassen?

Spekulieren heißt für mich, alles auf eine Karte setzen, und das sollte man nie tun. Wer so vorgeht, will entweder auf steigende oder auf fallende Märkte reagieren und beides ist falsch, weil das Investieren mit Blick in den Rückspiegel ist. Man sollte nach vorne schauen, was aber wiederum nicht heißt, dass man die Richtung der Märkte antizipieren kann. Man sollte sich nur von den Vergangenheitsereignissen nicht zu sehr beeinflussen lassen.

Ich hatte ja schon gesagt, dass man durchaus auf breit diversifizierte Rohstoffe langfristig setzen kann, und dazu gehören auch Öl und Gas. Hinter libanesische Aktien würde ich ein Fragezeichen setzen.

Zeit heilt bekanntlich nicht nur viele Wunden, sondern ist auch die Grundvoraussetzung für eine auskömmliche Rendite. Die Erfahrungen in diesem Millennium zeigen, dass auch 10, 15 oder sogar 20 Jahre manchmal nicht ausreichen – zumindest war das bei europäischen Aktien der Fall, die zwischen 2000 und 2020 gerade mal eine positive Realrendite geschafft haben. Fondsinvestoren blicken mit Europa-Aktien mit ziemlicher Sicherheit auf zwei verlorene Dekaden zurück. Insofern: Zeit und Diversifikation sind für Langfristanleger das A und O.

Wie baut man eine stabile Altersvorsorge auf, wenn sich die „neue Normalität“ wandelt, mit der Zentralbanken Geldpolitik betrieben haben? Oder gilt John Templetons Warnung vor „This time it's different“ nach wie vor? Bleibt alles beim prognosefreien Investieren?

Nothing is different. Steigende Zinsen bringen steigende Renditen, und dann ist es zumeist eine gute Gelegenheit, bei Risiko-Assets die Prämien einzuloggen, die es zu holen gibt. Das ist die Logik des altbekannten Spiels, was nicht bedeutet, dass man sich von jeglichen Kapitalmarktprognosen und Markt-Research verabschieden muss. Ich sollte zumindest insofern in Szenarien denken, dass ich mich einer Antwort auf die Frage annähern kann: Wie viel Risiko muss ich für wie lange eingehen? Ein Minimum an Hausaufgaben sollte ich schon noch erledigen.

***

Alexander Rudow ist Jurist und arbeitet als Autor von Sachbüchern und Belletristik, außerdem als freier Journalist in Salzburg.

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