Johanna Quaas: Mit 98 Jahren fit am Barren
Johanna Quaas, auch bekannt als die „Turn-Oma“, ist ein beeindruckendes Beispiel für Vitalität im hohen Alter. Mit ihren 98 Jahren ist sie immer noch sportlich aktiv. Vor wenigen Jahren hat sie sich aus Wettkämpfen zurückgezogen, doch ihre tägliche Gymnastikroutine hält sie weiterhin in Form. Bereits vor etwa zehn Jahren wurde sie als älteste Turnerin der Welt im Guinness-Buch der Rekorde gefeiert. Privat genießt sie ihr Leben als Urgroßmutter.
Der internationale Tag der älteren Menschen, der am 1. Oktober begangen wird, regt zum Nachdenken an: Werden fitte Senioren, die über 70 oder sogar 100 Jahre alt sind, bald die Norm? Und was bedeutet eigentlich „alt sein“ in unserer heutigen Gesellschaft?
Hundertjährige in Deutschland: Eine Stadt voller Senior
Statistiken belegen den demografischen Wandel: Ende 2023 lebten in Deutschland genau 26.615 Menschen, die 100 Jahre oder älter waren – das entspricht der Größe einer mittelgroßen Stadt. Musiker jenseits der 80 stehen noch auf der Bühne, Bestseller-Autoren feiern ihre Erfolge im hohen Alter, und viele Paare begehen ihre diamantene Hochzeit. Gleichzeitig gibt es jedoch auch Familien, in denen Kinder im Seniorenalter vor ihren hochbetagten Eltern sterben.
Diese Generation älterer Menschen hat auch politisches Gewicht. Über 20 % der Wahlberechtigten in Deutschland sind inzwischen über 70 Jahre alt. Damit stellt sich die Frage: Haben wir diese Entwicklung vorhergesehen?
"Es ist historisch gesehen eine neue Dimension", sagt Adelheid Kuhlmey, Altersforscherin an der Berliner Charité. Sie spricht von einer Generation, die in eine sogenannte „Sandwich-Position“ geraten ist: zwischen den eigenen, meist schon erwachsenen Kindern und ihren alternden Eltern. Dies könne laut Kuhlmey ein Gewinn sein, da die Vergangenheit präsenter in den Familien bleibt und wir einen größeren Erfahrungsschatz haben.
Die demografische Entwicklung: Von der Pyramide zum Pilz
Die Altersstruktur der Bevölkerung hat sich drastisch verändert. Während früher die demografische Pyramide das Bild prägte, gleicht die heutige Bevölkerungsverteilung eher einem Pilz – mit mehr älteren Menschen an der Spitze und immer weniger jungen Menschen am unteren Ende. Zwischen 1990 und 2022 stieg die Zahl der über 70-Jährigen von 8 auf 14 Millionen.
"Wir steuern auf eine pflegerische Katastrophe zu," warnt Kuhlmey. Sie betont, dass sich das öffentliche Bewusstsein und die Gestaltung der nachberuflichen Lebensphase ändern müssen. Diese Phase, die eine der längsten im Leben eines Menschen ist, wird oft als „Restlaufzeit“ bezeichnet – ein Begriff, der das menschliche Leben mit einem Atomkraftwerk vergleicht.
Noch vor 150 Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland bei nur 35 bis 38 Jahren. Fortschritte in der Medizin, bessere Ernährung, verbesserte Arbeitsbedingungen und wachsender Wohlstand haben die Lebenserwartung stark erhöht. Prognosen zufolge könnte die durchschnittliche Lebenserwartung von Neugeborenen bis 2070 sogar 86 bis 90 Jahre erreichen.
"Mit 66 ist noch lange nicht Schluss": Die verlängerte Lebensphase
Schon in den 1970er Jahren sang Udo Jürgens „Mit 66 ist noch lange nicht Schluss“. Der Sänger selbst wurde 80 Jahre alt. Heute zeigt der Deutsche Alterssurvey, dass Männer und Frauen im Alter von 65 Jahren noch durchschnittlich 16 bis 17 Jahre ohne größere gesundheitliche Beeinträchtigungen leben können. Einige Experten gehen sogar so weit zu sagen: 70 ist das neue 65.
Doch der menschliche Körper hat seine Grenzen. Ab einem gewissen Alter treten Krankheiten häufiger auf, von denen Demenz eine der gefürchtetsten ist. Selbst Fitness und ein aktiver Lebensstil können die Auswirkungen des Alterns nicht vollständig verhindern.
Johanna Quaas, die bald 99 wird, hat eine einfache Lebensphilosophie: „Immer aktiv bleiben.“ Dies half ihr auch nach einem Oberschenkelhalsbruch, der sie vor drei Jahren ausbremste. Doch nach der Rehabilitation kehrte sie in die Turnhalle zurück und fand so zurück in den Alltag – und aufs Fahrrad.
Hochbetagte: Der Abbau beginnt oft mit 85
So beeindruckend Johanna Quaas auch sein mag, Altersforscherin Kuhlmey stellt klar: „Das ist eine absolute Ausnahme.“ Ab einem Alter von 85 Jahren beginnen für viele Menschen die körperlichen und geistigen Einbußen. Das Leben kann zwar weiterhin erfüllend sein, doch es ist nicht mehr das Leben eines 70-Jährigen.
Die Unsicherheit darüber, was „alt sein“ eigentlich bedeutet, macht das Thema komplex – sowohl politisch als auch gesellschaftlich. Innerhalb der Altersgruppe der über 70-Jährigen gibt es Menschen, die biologisch gesehen zehn Jahre jünger oder älter wirken. Diese Spannbreite von 20 Jahren ist laut Kuhlmey einzigartig.
Dies erschwert auch die Festlegung des Rentenalters. „Am besten wäre es, wenn wir individuell nach Leistungsfähigkeit in den Ruhestand gingen“, sagt Kuhlmey, die selbst bald 69 wird und eine Senior-Professur innehat. Warum, fragt sie, sollte das Wissen von Menschen ab Mitte 60 verloren gehen?
Vorsorge und neue Wohnformen: Die Boomer sind gefragt
Die Babyboomer, die zwischen Mitte der 1950er- und Ende der 1960er-Jahre geboren wurden, stehen nun vor der Herausforderung, das Altern neu zu gestalten. Diese Generation hat bereits Erfahrungen mit der Pflege ihrer Eltern gemacht und könnte daraus Lehren ziehen.
"So geht es nicht weiter, das will ich meinen Kindern nicht zumuten," sagt Kuhlmey. Sie hofft, dass die Boomer alternative Wohnformen wie Alters-WGs oder Mehrgenerationenwohnen verstärken. Auch die Digitalisierung könnte im Alltag hilfreich sein, während viele dieser Generation über ein gutes finanzielles Polster und höhere Bildung verfügen.
Dennoch steht das Pflegesystem unter großem Druck, und die Debatte darüber, wie wir in Zukunft altern wollen, ist noch nicht ausreichend geführt.
Fehlende Diskussionen über die letzten Dinge
„Wir gehen das Thema Altern noch immer zu naiv an“, resümiert Kuhlmey. Es gibt zu wenige Patientenverfügungen und kaum öffentliche Diskussionen über die letzten Lebensjahre. Was soll die Medizin im Alter von 85 Jahren noch leisten? Und was kann sie vielleicht nicht mehr leisten, vor allem im Hinblick auf begrenzte Budgets?
Soziale Teilhabe bleibt entscheidend für ein erfülltes Leben im hohen Alter, doch wird sie auch für Hundertjährige gewährleistet? „Wir verdrängen das Hochalter noch zu sehr“, sagt Kuhlmey und fordert mehr gesellschaftliche Debatten – auch über schwierige Themen wie die Sterbehilfe. „Im Leben bekommt man nichts ohne einen Preis,“ schließt sie.