Vorsorge

„Der Schuldner entscheidet, welchen Weg er gehen möchte“

Lesezeit: 8 min
21.07.2022 16:00
Wer mit seinen Schulden nicht mehr zurechtkommt, kann sich Hilfe bei einer Schuldnerberatung holen. Bernhard Dietrich ist seit über zwei Jahrzehnten als Fachberater im Einsatz. Im Interview mit Altersvorsorge Neu Gedacht verrät er, was typische Schuldenfallen sind, welchen Sinn eine Privatinsolvenz hat und woran Verbraucher eine solide Schuldnerberatung erkennen.
„Der Schuldner entscheidet, welchen Weg er gehen möchte“
Wer Schulden hat, traut sich oft nicht, darüber zu reden. Eine Beratungsstelle hilft weiter. (Foto: iStock.com/towfiqu ahamed)
Foto: towfiqu ahamed

Altersvorsorge Neu Gedacht: Herr Dietrich, was sollten Verbraucher beachten, um gar nicht erst in die Schuldenfalle zu geraten?

Bernhard Dietrich: Natürlich sollte man wissen: Wie viel Geld habe ich im Monat zur Verfügung? Was sind meine festen Ausgaben? Was ist das Resteinkommen, das ich zur freien Verfügung habe? Wenn ich feststelle, dass ich jeden Monat den Dispo-Kredit meines Girokontos nutzen muss und ins Minus gehe, wäre es angebracht, mal eine Bestandsaufnahme zu machen. Dabei sollten Einnahmen und Ausgaben gegenübergestellt werden. Es ist ganz banal, aber für viele schon ein Quantensprung, wenn sie feststellen, dass ihre Ausgaben höher sind als die Einnahmen. Da ist dann Alarm angesagt. Diese Bestandsaufnahme kann man eben auch schon zur Prävention machen, wenn noch gar keine Schulden angefallen sind.

Und was folgt daraus?

Wenn die Ausgaben zu hoch sind, kann ich überlegen, ob sich die Einnahmen erhöhen lassen: Besteht Anspruch auf Transferleistungen wie Wohngeld oder Kinderzuschlag? Kann ich meine Arbeitszeit erhöhen oder einen Nebenjob annehmen? Und wenn das nur mit großer Kraftanstrengung möglich ist, sollte ich die Ausgaben auf den Prüfstand stellen. Oder man macht beides gleich parallel. Beim Blick auf die festen Ausgaben wie Miete, Versicherungen, Fahrtkosten, Hygieneartikel oder Kleidung werden viele feststellen, dass sie da eine Menge sparen können. Auszumisten hilft da häufig schon, einen festen Haushalt zu bekommen. Ist das nicht möglich, lohnt es sich, eine Schuldnerberatung aufzusuchen.

Sie sprachen den Dispo-Kredit an: Wenn dieser überzogen wurde, müssen Banken den Kontoinhabern eine entsprechende Beratung anbieten. Was bringt das?

Die Banken lösen sich formal aus dem Problem, indem sie ein Beratungsprotokoll anfertigen und den Kunden per Unterschrift bestätigen lassen, dass gewisse Punkte besprochen wurden. Wie umfangreich das jeweils geschehen ist, sei mal dahingestellt. Aber längst nicht alle Banken sind unseriös, viele sehen genauer hin und beraten seriös. In unserer Beratung gibt es jedoch immer wieder einmal Banken, die das Kreditvolumen immer weiter erhöhen. Wenn der Kunde sich dann finanziell nicht mehr bewegen kann, kooperieren sie nicht mehr mit ihm und er kommt zu uns. Da kann man als Verbraucher schon vorher die Notbremse ziehen.

Würden Sie denn generell von Krediten abraten? Gerne geben ja schon Eltern ihren Kindern mit: „Geh bloß nie in die Miesen!“…

Ich glaube, das entspricht in unserem Wirtschaftssystem heute nicht mehr der Lebensrealität. Man macht zwar ungerne Schulden, aber es gehört einfach dazu. Solange man den Überblick hat, muss es ja auch nicht negativ sein. Als Selbstständiger zum Beispiel müssen Sie investieren und im Zweifel einen Kredit aufnehmen. Auch wenn Sie eine Immobilie kaufen wollen, brauchen Sie einen Kredit. Da lässt man sich vorher beraten, ob das Verhältnis zwischen Eigenkapital und Ausgaben stimmt. Oftmals führen auch unvorhergesehene Ereignisse zu Schulden, so wie ein Jobverlust, eine Scheidung, Tod, Erkrankungen und Unfälle. Wir leben in einer Risikogesellschaft! Schlimm wird es, wenn Sie überschuldet sind und die Verpflichtungen nicht mehr bezahlen können.

Worauf kommt es bei einer Kreditaufnahme denn an?

Was ich aber empfehlen würde, ist auf die Kreditrate zu achten: Kann ich mir diese Verpflichtung leisten? Habe ich genug Spielraum, diese Rate weiterzuzahlen, wenn ich zum Beispiel meinen Job verliere und auf Arbeitslosengeld angewiesen bin? Mir fällt immer wieder auf, dass viele Schuldner über die Details ihres Kreditvertrages nicht richtig informiert sind. Das kann man den Leuten gar nicht vorwerfen, weil oft auch einfach die Finanzbildung fehlt.

Ab wann wird eine Verschuldung richtig brenzlig? Wenn man sie nicht mehr aus eigener Kraft abwenden kann?

Es ist für viele Leute eine hohe psychische Belastung, wenn sie hohe Schulden haben. Sie reden mit niemandem darüber, es ist ihnen peinlich, sie kommen zu spät in die Schuldnerberatung. Oft zahlen sie bis dahin Raten weiter, die gar nicht mehr zielführend sind, und bleiben dadurch in der Überschuldung. Alarmstufe rot ist, wenn Sie Ihre festen Ausgaben nicht mehr zahlen können, wenn die falschen Prioritäten gesetzt werden. Die Leute zahlen beispielsweise Raten an den Gläubiger, aber ihre Miete nicht mehr.

Wann sollte der Schuldner eine Privatinsolvenz anmelden?

Das ist eine rechnerische Frage. Während des Insolvenzverfahrens müssen Sie den Teil Ihres Lohns, der pfändbar ist, an einen Insolvenzverwalter abgeben. Das ist in der Regel weniger Geld als das, was an Schulden vorhanden ist. Daher lohnt sich die Insolvenz schon bei einer mittelgroßen Überschuldung. Es kommt aber immer auf das Verhältnis zwischen Einkommen und Schuldenhöhe an. Auch hier ist die Bestandsaufnahme ein guter erster Schritt. Darauf aufbauend, kann man eine Entscheidung treffen, ob eine Insolvenz zielführend ist. Eine Pflicht zur Insolvenz gibt es aber bei Privatleuten, im Gegensatz zu Firmen, nicht – egal wie hoch sie verschuldet sind.

Wie läuft das Insolvenzverfahren ab?

Am Anfang müssen Sie Ihre ganze Vermögenssituation offenlegen. Dann beginnt ein dreijähriges Verfahren. Während dieser Zeit haben Sie eine Informationspflicht gegenüber einem Insolvenzverwalter, Sie müssen bestimmte Auflagen einhalten, die aus meiner Sicht aber überschaubar sind. Nur müssen Sie sich vorher überlegen, ob Sie diese erfüllen können und wollen. Sonst machen Sie sich die Mühe umsonst, so ein Verfahren anzustoßen, in dem sie am Ende nicht bestehen können. Sie sollten in dieser Situation stabil sein, keine neuen Schulden machen. Aus dieser Situation heraus können Sie sich entschulden und nach den drei Jahren wirtschaftlich neu anfangen.

Wenn sich Verbraucher Unterstützung holen möchten – woran erkennen sie eine verlässliche Schuldnerberatung?

Die Beratung sollte kostenfrei sein und vom jeweiligen Bundesland offiziell nach Paragraf 305 der Insolvenzordnung anerkannt sein. Zudem sollte der Beratungsprozess mit seinen einzelnen Schritten transparent und nachvollziehbar ablaufen und von geschultem Fachpersonal begleitet werden.

Wodurch kennzeichnet sich ein guter Beratungsprozess?

Zunächst ist die soziale Komponente ganz wichtig für die Menschen. Sie sollen erstmal ankommen und ein Vertrauen aufbauen, von ihrer Situation offen berichten können. Das ist essenziell für einen guten Beratungsverlauf. Dann müssen bestimmte grundlegende Punkte erfragt werden – etwa, ob die Existenzsicherung gegeben ist, Anspruch auf Transferleistungen besteht oder diese schon voll ausgeschöpft sind. Anschließend geht es darum, die Gläubiger zu erfassen und zu bewerten: Manche Leute haben Unterhaltsschulden beim Ehepartner, manche müssen Geldstrafen an den Staat bezahlen oder müssen Schmerzensgeld an Geschädigte zahlen. Wir informieren, welche Möglichkeiten jeweils bestehen und wollen im Beratungsprozess erreichen, dass der Kunde entscheidet, welchen Weg er gehen möchte. Schließlich besprechen wir gemeinsam, wie wir vorgehen. Der Mensch muss immer mit ins Boot geholt werden, wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe an.

Aber diese Auswahl haben doch nur noch Menschen, die eine nicht allzu hohe Verschuldung aufweisen, oder?

Das stimmt. Aber es kann auch sein, dass jemand sagt: Ich mache momentan keine Insolvenz, sondern lebe erstmal mit meinen Schulden. Das geht auch. Wir bieten dazu die Begleitung an. Dann geht es erstmal darum, dass die Existenz gesichert ist, dass man Ihnen nicht alles Geld wegnehmen kann. Viele Leute denken, sie haben so hohe Schulden, dass sie ins Gefängnis müssten. Da ist es unser Job, erstmal zu beruhigen. Wenn die Menschen wieder einen klaren Kopf haben, können sie sich entscheiden, wie sie weitermachen wollen.

Welche typische Ansätze zur Schuldentilgung existieren?

Bei mittleren Verschuldungen, bei denen noch finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, finden häufig Vergleiche statt. Das heißt: Der Gläubiger will beispielsweise 10.000 Euro haben, Sie bieten 3.000 Euro an und schildern Ihre Situation: Das biete ich an. Wenn Sie das Angebot nicht annehmen, muss ich eine Insolvenz machen. Können Sie mir entgegenkommen, damit ich eine Chance habe, diese Schulden außerhalb der Insolvenz zu begleichen? So ein Vergleich wird aber schon schwierig, sobald Sie mehr als zwei, drei Gläubiger haben. Das kriegen Sie nicht unter einen Hut. Oftmals sagen die Schuldner auch: Ich warte mal mit der Insolvenz und gucke, wie ich mich beruflich weiterentwickle. Eventuell kann ich die Schulden durch ein höheres Einkommen aus eigener Kraft abbezahlen. Das gibt es schon hin und wieder.

Gibt es eigentlich eine Klientel, die besonders anfällig für Schulden ist?

Das geht querbeet. Es gibt ja zum Beispiel den Begriff der Kaufsucht – jemand bestellt zu viel. Aber bei einem Menschen mit hohem Einkommen, würde niemand auf die Idee kommen, zu sagen: Der hat Kaufsucht! So jemand zahlt seine Rechnungen, das fällt dann nicht weiter auf. Bei einer Person, die von Hartz-IV-Leistungen lebt und sich für 200 Euro im Monat Sachen bestellt, die sie nicht braucht, fängt man an, zu diskutieren, ob das nicht Kaufsucht ist. Tatsächlich kommen viele Menschen zu uns, die wenig Einkommen haben. Aber auch Menschen mit hohem Einkommen, die mal selbstständig waren und dann in eine Pleite geraten sind.

Wirken sich die derzeit so hohe Inflation und die gestiegenen Energiepreise bei Ihrer Klientel schon stärker aus?

Ich denke, das wird in nächster Zeit auf uns zukommen. Ich bekomme aber schon jetzt vereinzelt mit, dass Klienten stöhnen, wenn sie Einkaufen gehen müssen. Das wird aber nicht kurzfristig zu Überschuldungen führen. Die Leute, die sowieso wenig Geld haben, leiden unter den hohen Preisen im Moment am meisten. Da ist demnächst vielleicht statt am 20. schon am 17. eines Monats das Konto leer und sie müssen zur Tafel gehen. Hier werden wir mehr Budgetberatung machen und den Leuten zeigen, wie sich die Mehrausgaben abfedern lassen.

Zur Person: Bernhard Dietrich ist Diplom-Sozialarbeiter und hat sich über entsprechende Fortbildungen für seine Tätigkeit in der Schuldnerberatung qualifiziert. Seit 25 Jahren ist er als Schuldnerberater tätig und seit 2014 arbeitet er für den gemeinnützigen Sozialtherapeutischen Beratungsstelle / Betreuungsverein e.V. (SBB) in Mainz. Dieser unterstützt Menschen kostenfrei bei psychischen Erkrankungen, gibt Erziehungshilfe und berät in Schuldenfällen. Die Schuldnerberatung des SBB ist eine vom Land Rheinland-Pfalz nach der gesetzlichen Insolvenzordnung offiziell anerkannte Beratungsstelle.

Erste Tipps und Orientierungshilfen für verschuldete Verbraucher bietet die Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung e. V. auf der Seite meine-schulden.de

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Gregor Elsbeck ist gelernter Journalist und schreibt als freier Autor in Mainz über Themen aus den Bereichen Finanzen und Management.

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