Analyse von Olivier de Berranger, CIO bei LFDE:
Als Jerome Powell, der Vorsitzende der US-Notenbank Fed, am vergangenen Mittwoch nach der geldpolitischen Sitzung vor die Presse trat, war die Stimmung an den Märkten angespannt. Es sollte eine unausweichliche Straffung der Geldpolitik bestätigt werden, begründet durch eine außergewöhnlich hohe Inflation und der sehr günstigen Entwicklung am US-Arbeitsmarkt. Nach den Kursrückgängen seit Jahresanfang hätte man erwarten können, dass diese Ankündigungen bereits eingepreist worden seien und es an den Märkten nicht noch weiter bergab gehen würde.
Geldpolitische Unsicherheiten sorgen für Unruhe
Doch es kam ganz anders. Nach der Pressekonferenz stürzten die Aktienkurse ab – erholten sich allerdings wieder leicht –, die Zinssätze zogen an, der US-Dollar setzte seine Aufwertung gegenüber dem Euro fort und Gold gab weiter nach. Die Äußerungen Powells überraschten also, jedoch nicht so sehr aufgrund der implizit angekündigten Maßnahmen, sondern vielmehr durch den generellen Tonfall. Powell klang ausnahmsweise fest entschlossen, die nicht mehr als „vorübergehend“ bezeichnete Inflation einzudämmen und zeigte sich unbeeindruckt von der Volatilität, die seit einem Monat an den Börsen herrscht.
Die Anleger begreifen allmählich, dass die geldpolitische Straffung nicht notwendigerweise vorhersehbar und sanft verlaufen wird. Sie wird in hohem Maße von den Konjunkturdaten abhängig sein. Diesen Aspekt hob Powell deutlich hervor, vielleicht um auszugleichen, dass er die Bedeutung der Inflationsdaten so lange kleingeredet hatte. Angesichts des Preisschubs im Jahr 2021 und der ausgebliebenen Inflation in den Vorjahren sind erhebliche Sprünge in der Geldpolitik zu befürchten. Eine hohe Inflation ist mit Schwankungen verbunden. Sie erzeugt Volatilität in der Geldpolitik, die sich wiederum in der erhöhten Volatilität der Inflation niederschlägt. Sowohl die Märkte als auch die Unternehmen sind also berechtigterweise angesichts dieser neuerlichen Unsicherheit über die künftige Geldpolitik beunruhigt.
Endes des Rettungsschirms
Es gibt jedoch noch ein weiteres Thema, das für Unsicherheit sorgt und für die Märkte möglicherweise noch schmerzhafter ist: die Aufhebung oder zumindest die Abschwächung der Schutzfunktion der Fed bei einem Absturz der Märkte oder der Konjunktur. Als die Inflation niedrig oder zu niedrig war, bedeutete eine Konjunkturdelle nicht notwendigerweise eine schlechte Nachricht für die Börsen. Die Zentralbanken konnten hierauf mit Lockerungsmaßnahmen reagieren. Daraus ergab sich der Grundsatz, dass „eine schlechte Nachricht (für die Wirtschaft) eine gute Nachricht (für die Börse) ist“. Die Entwicklung im März 2020 veranschaulicht dies bestens. Doch damit ist jetzt Schluss – zumindest für eine gewisse Weile. In Zeiten hoher Inflation sind den Zentralbanken die Hände gebunden: Sie können nicht zur Stützung der Konjunktur oder der Märkte intervenieren. Es sei denn, sie gehen von dem Prinzip aus, dass im Krisenfall eine Verlangsamung deflationär wirkt. Dass dies nicht immer zutrifft, zeigen die Krisen in Ländern mit sehr hoher Inflation (Türkei, Argentinien usw.). Somit verfügen die Zentralbanken im derzeitigen Inflationsumfeld nicht mehr über ihren „Rettungsschirm“ – oder Put (Absicherungsoption) im Börsenjargon – bzw. können diesen erst auf viel niedrigerem Niveau öffnen. Im aktuellen Umfeld sind die Zentralbanken bis zu einem gewissen Punkt nicht mehr die Hüter der Märkte.
EZB muss nachziehen
Den Anlegern, die anfangs über die laxe Haltung der Zentralbanken in Sachen Inflation erfreut waren, wird nun also klar, welcher Preis dafür gezahlt werden muss. Die Schlussrechnung ist noch nicht bekannt, denn die kommende Straffung könnte sich lange hinziehen. Auch wenn in den USA 2022 mindestens vier Zinsanhebungen um 25 Basispunkte erwartet werden, ist mehr als das Doppelte nötig, um den langfristigen Gleichgewichtspunkt von 2,5 % zu erreichen. Hinzu kommt, dass die EZB möglicherweise nachziehen muss, denn sie ist mit einer fast ebenso schnell steigenden Inflation konfrontiert – den jüngsten Daten zufolge 5 % in der Eurozone und sogar noch mehr in anderen Ländern (12 % in Estland!).
Glücklicherweise passen sich Unternehmen und Anleger an. Die Änderung des Inflationsumfeldes ist zwar heftig, doch es entstehen neue Gleichgewichte – bis die nächste Änderung kommt. Trotz aller Schulden und Zweifel: diese immense finanzielle Straffung ist auf lange Sicht zweifelsohne nur eine Etappe beim beschwerlichen, jedoch stetigen Aufstieg der Märkte.
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