Die Warnungen vor einer Deindustrialisierung Deutschlands werden dringlicher und in Teilen der deutschen Wirtschaft greift Panikstimmung um sich. Etwa erwartet der Ökonom des Münchner ifo-Instituts Oliver Falck „vorübergehende Produktionseinstellungen und die Verlagerung besonders energieintensiver Produktionsschritte ins Ausland.“
Das werde zwar nicht von heute auf morgen geschehen, weil die energieintensive Produktion kapitalintensiv sei – also teuer –, und sich nicht ohne Weiteres verlagern lasse. „Wir werden aber bei Neuinvestitionen wahrscheinlich Verlagerungen ins Ausland sehen“, erklärt der Volkswirt.
Auch die Deutsche Bank warnt in einer Analyse, die Energiekrise treffe Deutschland bis ins Mark. „Wenn wir in etwa zehn Jahren auf die aktuelle Energiekrise zurückblicken werden, könnten wir diese Zeit als Ausgangspunkt für eine beschleunigte Deindustrialisierung in Deutschland betrachten“, schreiben die Autoren. Laut der Studie deindustrialisiert die energieintensive Industrie in Deutschland bereits seit Jahrzehnten schleichend, aber die Energiekrise beschleunige aktuell den Trend.
Unternehmer sehen schwarz
Bedrängte Unternehmer sehen die Lage noch sehr viel dramatischer als Ökonomen. Größtes Kostenproblem für viele industrielle Mittelständler ist nicht Erdgas, sondern der Strom. Manche Unternehmen kauften nämlich Strom jahrelang am Spotmarkt ein, weil die Preise dort günstiger waren als langfristige Lieferverträge.
Doch die Spotpreise haben sich vervielfacht, und auch vielen Unternehmen mit langfristigen Lieferverträgen stehen nun immense Strompreiserhöhungen bevor. Zum Jahresende werden vielerorts die Verträge auslaufen. Viele Firmen zahlten bislang weniger als zehn Cent pro Kilowattstunde, nun stehen Preise um die 40 Cent ins Haus, wie Andrea Thoma-Böck berichtet, Geschäftsführerin des Familienunternehmens Thoma Metallveredelung in Heimertingen.
„Nur noch sehr wenige Unternehmen werden in der glücklichen Lage sein, noch in 2023 abgedeckt zu sein“, sagt die Unternehmerin. „Der Rest wacht in dieser neuen Preiswelt auf, die für kein Unternehmen zu stemmen ist.“ Manche Firmen finden niemand, der ihnen noch Strom verkaufen wollte: „Erschwerend kommt hinzu, dass vielen Unternehmen ein Stromvertrag verweigert wird“, sagt Thoma-Böck.
Wohlstand in Gefahr
Die Deindustrialisierung gefährdet denn auch nicht bloß Arbeitsplätze, sondern den allgemeinen Wohlstand Deutschlands und somit auch die Altersvorsorge der Deutschen. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Peter Adrian, warnt etwa vor einem Wohlstandsverlust unbegreiflichen Ausmaßes. Die Gaspreise seien in Deutschland aktuell etwa zehnmal so hoch wie in den USA. „Wenn die Energiepreise nicht deutlich sinken, gehen spätestens in sechs Monaten bei Zehntausenden Betrieben hierzulande die Lichter aus“, sagte er der Rheinischen Post.
Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft wies bereits im Jahr 2014 darauf hin, dass die Industrie entscheidend für den deutschen Wohlstand sei. Demnach kommen 65 Prozent aller Forschungs- und Entwicklungsausgaben aus Betrieben des Sektors. 14,4 Prozent aller Beschäftigten arbeiteten in der Industrie, aber 17 Prozent der Gehälter kamen aus diesem Wirtschaftszweig.
Eine Stunde Industriearbeit schaffte denn auch 32 Euro an Wertschöpfung, berichtete die Studie. Das sei 15 Prozent mehr als in jedem anderen Sektor. Volkswirtschaften mit großer Industrie wuchsen in den Jahren nach 2000 überdurchschnittlich. (dpa/eli)