Die hartnäckig hohe Inflation zehrt in diesem Jahr einer Studie zufolge Lohnzuwächse in einem einmaligen Ausmaß auf. Tarifbeschäftigte haben damit unter dem Strich real weniger Geld zur Verfügung. Nach einer vorläufigen Bilanz des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) handelt es sich um einen „in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bislang einzigartigen Reallohnverlust.“
Die Teuerung verlor im November zwar etwas an Tempo, blieb nach bestätigten Daten des Statistischen Bundesamtes mit 10,0 Prozent aber weiter zweistellig. Nach Angaben des WSI-Tarifarchivs der gewerkschaftlichen Böckler-Stiftung steigen die Tariflöhne in Deutschland 2022 gegenüber dem Vorjahr um durchschnittlich 2,7 Prozent. Angesichts einer zu erwartenden Steigerung der Verbraucherpreise um 7,8 Prozent im Jahresschnitt ergebe sich hieraus ein durchschnittlicher Rückgang der tarifvertraglich vereinbarten Reallöhne von 4,7 Prozent.
Zum einen hätten in diesem Jahr aufgrund langfristig wirksamer Tarifverträge in vielen Branchen gar keine Tarifverhandlungen stattgefunden, erläuterte der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Thorsten Schulten. „Andererseits werden aktuell vereinbarte, deutlich stärkere Tariferhöhungen und Inflationsprämien oft erst ab 2023 wirksam.“
Im kommenden Jahr können Beschäftigte nach seiner Einschätzung auf insgesamt deutlich höhere Tarifzuwächse hoffen. Hierauf deuteten zum einen eine Reihe aktueller Abschlüsse etwa in der chemischen Industrie und in der Metall- und Elektroindustrie hin. Zudem lasse sich auch bei den kommenden Verhandlungen wie etwa im öffentlichen Dienst (Bund und Gemeinden), bei der Deutschen Post AG oder in der Nahrungsmittelindustrie eine Tendenz zu deutlich höheren Tarifforderungen beobachten, sagte der Experte.
Die Inflation in Deutschland wird seit Monaten von hohen Energie- und Lebensmittelpreisen angetrieben. „Wir beobachten zunehmend auch Preisanstiege bei vielen anderen Waren neben der Energie“, erläuterte der Präsident der Wiesbadener Behörde, Georg Thiel, am Dienstag.
Energie kostete im November 38,7 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Der Preisanstieg schwächte sich nach einem Zuwachs von 43 Prozent im Oktober damit etwas ab. Für Nahrungsmittel mussten Verbraucher 21,1 Prozent mehr zahlen als im November 2021. Seit Jahresbeginn hat sich der Preisauftrieb den Angaben zufolge hier schrittweise verstärkt.
Insgesamt stiegen die Verbraucherpreise im November gegenüber dem Vorjahresmonat um 10,0 Prozent. Im Oktober hatte die Jahresinflationsrate mit 10,4 Prozent den höchsten Stand seit etwa 70 Jahren erreicht. Im Vergleich zum Vormonat sanken die Verbraucherpreise im November insgesamt um 0,5 Prozent.
Volkswirte sehen in der leichten Entspannung noch keinen Grund zur Entwarnung. Viele Ökonomen rechneten zuletzt erst im Frühjahr mit einem deutlicheren Rückgang der Teuerung. Bundesbankpräsident Joachim Nagel geht davon aus, dass die Inflationsrate in Deutschland auch im kommenden Jahr hoch bleibt. „Ich halte es für wahrscheinlich, dass im Jahresdurchschnitt eine Sieben vor dem Komma stehen wird“, sagte er jüngst.
Hohe Teuerungsraten schmälern die Kaufkraft von Verbraucherinnen und Verbrauchern. Die Menschen können sich für einen Euro weniger leisten. Bei einer Yougov-Umfrage unter mehr als 2000 Menschen in Deutschland gaben im November 23 Prozent an, in den vergangenen drei Monaten meistens oder immer Schwierigkeiten beim Lebensmitteleinkauf gehabt zu haben. Mehr als die Hälfte (59 Prozent) haben nach eigenen Angaben bei den gewohnten Ausgaben bereits den Rotstift angesetzt. Gut zwei Drittel (67 Prozent) der Verbraucher gehen davon aus, ihre Ausgaben zu kürzen oder weiter zu verringern.
Eine Analyse des Ifo-Instituts sieht neben den gestiegenen Kosten auch höhere Gewinne der Unternehmen hinter der aktuellen Inflation. „Einige Unternehmen scheinen den Kostenschub als Vorwand dafür zu nehmen, durch eine Erhöhung ihrer Absatzpreise auch ihre Gewinnsituation zu verbessern“, erklärte Ifo-Experte Joachim Ragnitz. Dies dürfte die Inflation verstärkt haben.
Allerdings stellt er auch klar, dass die Inflation insgesamt „zu einem ganz erheblichen Teil“ tatsächlich auf die gestiegenen Kosten der Unternehmen zurückzuführen sei. Man könne bisher nur vorläufige Aussagen über das tatsächliche Ausmaß des zusätzlichen Faktors treffen.
Die Bundesregierung will die Belastungen für Verbraucher und Unternehmen durch die hohen Energiepreise mit milliardenschweren Entlastungspaketen abfedern. Dazu zählen auch die ab kommendem Jahr geplanten Gas- und Strompreisbremsen. Bundestag und Bundesrat sollen darüber Ende dieser Woche beschließen. Für private Haushalte und kleine und mittlere Firmen sollen die Preisbremsen ab März gelten, für Januar und Februar ist eine rückwirkende Entlastung geplant. Für große Industrieverbraucher soll die Gaspreisbremse ab Januar greifen.