Der enorme Einfluss passiver ETFs verschleiert die Tatsache, dass an der Börse längt ein neuer Bärenmarkt begonnen hat. Zwar sind die großen Aktienindizes zuletzt von Rekordhoch zu Rekordhoch gestiegen. Doch wenn man genauer hinschaut, erkennt man, dass die Rekorde ausschließlich von ein paar wenigen Aktien getrieben werden.
Mit Ausnahme des Dow Jones Industrial Average sind die wichtigsten Marktindizes nach der Marktkapitalisierung gewichtet. Wenn also der Aktienkurs eines Unternehmens steigt, wird es zu einem wichtigeren Bestandteil des Index. Das bedeutet, dass Kursveränderungen bei den größten Aktien einen übergroßen Einfluss auf den Index haben.
Einige wenige dominieren
Derzeit machen die führenden zehn Aktien im S&P 500 Index mehr als ein Drittel des gesamten Index aus. Und wenn im vergangenen Jahr Unternehmen wie Apple, Google, Microsoft, Tesla und Nvidia nicht so enorme Renditen erbracht hätten, so sähe die Kursentwicklung für dieses Jahr viel schlechter anders aus. Das Gleiche gilt für den Technologieindex Nasdaq, der von denselben Aktien dominiert wird wie der S&P 500.
Doch die große Mehrheit der kleineren Aktien in den Indizes verzeichnet Kurse, die deutlich unter ihren jeweiligen 52-Wochen-Hochs liegen. Stand letzte Woche liegen mehr als 38 Prozent der an der Nasdaq gehandelten Aktien um krasse 50 Prozent oder mehr unter ihren 52-Wochen-Höchstständen, schreibt der Analyst Lance Roberts.
Und weiter: "Zu keinem anderen Zeitpunkt seit mindestens 1999 haben sich die Kurse so vieler Aktien halbiert, während der Nasdaq Composite Index so nahe an seinem Höchststand war. Niemals zuvor befanden sich so viele Aktien in einem Bärenmarkt, während zugleich der Index nahe seinen historischen Höchstständen lag.
Auf dem Höchststand
Doch trotz dieser breiten krassen Kursverluste auf breiter Front notieren weiterhin viele Indizes in der Nähe ihrer Höchststände. Eine Ursache ist das passive Indexing. Derzeit werden in den USA mehr als 1750 börsengehandelte Fonds (ETFs) gehandelt, denen oftmals dieselben Aktien zugrunde liegen. Nach Angaben von ETF.com besitzen unter diesen ETFs:
- 363 Apple-Aktien
- 532 Microsoft
- 322 Google (GOOG)
- 213 Google (GOOGL)
- 424 Amazon
- 330 Netflix
- 445 Nvidia
- 339 Tesla
- 271 Bershire Hathaway
- 350 JP Morgan
Von den rund 1750 ETFs in den USA machen die zehn führenden Aktien im Index etwa 25 Prozent aller Investments aus. Denn damit ein ETF-Emittent ein Produkt an Investoren verkaufen kann, braucht er eine gute Performance. Darüber hinaus ist es in einem späten Marktzyklus, der von der Dynamik angetrieben wird, nicht ungewöhnlich, dass dieselben Aktien mit der besten Performance in vielen ETFs vertreten sind.
Wenn Anleger Anteile eines passiven börsengehandelten Fonds kaufen, müssen die Anteile aller zugrunde liegenden Unternehmen gekauft werden. Angesichts der massiven Zuflüsse in börsengehandelte Fonds im letzten Jahr und der anschließenden Zuflüsse in die führenden zehn Aktien ist die es nicht überraschend, dass die Marktstabilität tatsächlich eine Illusion ist.
Obwohl derzeit mehr 38 Prozent der Aktien im Nasdaq mehr als 50 Prozent von ihrem Höchststand verloren haben, ist der Index selbst nur geringfügig im Minus. Die Lage erinnert stark an die Phase vor dem Platzen der Dotcom-Blase Ende 1999. Nur der kontinuierliche Kauf führender Aktien durch die ETFs hält den Index derzeit noch hoch. Die folgende Grafik von Sentiment Trader veranschaulicht dies.
Rückgang wird beschleunigt
Die scheinbare Stabilität, die durch den passiven Kauf von Indizes erreicht wird, wird letztendlich auch die Quelle der kommenden Instabilität sein, sobald die passiv investierenden Anleger zu aktiven Verkäufern werden. Der frühere Chef der Bank of England, Mark Carney, warnte in diesem Zusammenhang vor dem Risiko einer "ungeordneten Auflösung von Portfolios" aufgrund der fehlenden Marktliquidität.
Wenn der Verkauf von ETFs beginnt, so übertreffen diejenigen, die verkaufen wollen, diejenigen, die kaufen wollen, sodass die Kurse fallen müssen. Das Problem besteht darin, dass etwa die 363 börsengehandelten Fonds, die Apple-Aktien verkaufen wollen, dann um die gleichen Käufer buhlen, während zudem die Anleger, die direkt in Apple-Aktien investiert sind, ebenfalls Käufer suchen.
Roberts erwartet, dass irgendwann ein unerwartetes Ereignis die Psychologie der Anleger von "bullisch" zu "bärisch" verändern wird. Dann werde die Liquidierung ganzer Aktienkörbe den Rückgang weiter beschleunigen, sodass der Ausverkauf heftiger ausfällt als in der Vergangenheit. Der heftige Corona-Crash im März 2020 sei nur ein Vorgeschmack auf den kommenden Bärenmarkt gewesen.
"Diese Risikokonzentration, der Mangel an Liquidität und ein Markt, der zunehmend von 'Roboter-Algorithmen' angetrieben wird, führen dazu, dass Umkehrungen nicht mehr ein langsamer und methodischer Prozess sind, sondern eher ein Ansturm ohne Rücksicht auf Preise, Bewertungen oder fundamentale Messgrößen, da der Ausweg sehr eng wird", so Roberts.