Schon Mitte April war der Chefanalyst für US-Aktien bei Morgan Stanley, Mike Wilson, zu dem Schluss gekommen, dass die steigende Inflation kein positiver Katalysator mehr für das Gewinnwachstum oder für die Aktienmärkte ist. Die positiven Auswirkungen der Inflation auf das Ertragswachstum bei den Unternehmen hätten ihren Höhepunkt erreicht, schrieb er.
Denn Wilson zufolge wirken sich die steigenden Verbraucherpreise nun eher negativ auf das Wachstum aus, vor allem weil die Inflation die Federal Reserve dazu zwinge, ihre lockere Geldpolitik weiter zurückzufahren. Und dies wirke sich negativ auf zinsempfindliche Bereiche der Wirtschaft und des Marktes aus, darunter etwa der Wohnungsmarkt.
In der Folge erwartete Wilson fallende Aktienkurse. Allerdings war er Mitte April noch nicht bereit, voll auf die Baisse zu setzen. Stattdessen setzte er weiter auf defensive Aktien, die weniger von wirtschaftlichen Schwankungen erfasst werden. Der Analyst erwartete starke Zuflüsse in Aktien zugunsten von Anleihen, da erstere vom Markt als die bessere Inflationsabsicherung angesehen würden.
Wilson erwartete, dass diese Umschichtung von Anleihen in Aktien dafür sorgen würde, dass Aktien insgesamt teuer bleiben und dass defensive Werte sogar steigen. Die Botschaft des Marktes war für ihn „glasklar“: Das Wachstum verlangsamt sich und „wahrscheinlich stärker als die meisten Prognosen, insbesondere für den Zeitraum 2023, für den das Risiko einer Rezession am stärksten gestiegen ist.“
Schlechte Aussichten
Vergangene Woche nun sind die Börsen-Prognosen des Analysten noch düsterer geworden. Wilson lässt jeglichen vorsichtigen Optimismus hinter sich und schreibt, dass sich der Aktienindex S&P500 wohl dem anhaltenden Bärenmarkt anzuschließen wird. Denn defensive Aktien seien jetzt teuer und böten wenig absolutes Aufwärtspotenzial.
Obwohl die defensiven Werte seiner Ansicht nach immer noch besser performen könnten als der Gesamtmarkt, warnt Wilson, dass dies nur ein relativer Handel sei. Die Inflation könnte nun zwar ihren Höhepunkt erreicht haben, dies sei aber nicht positiv zu werten, da es bedeute, „dass auch die Gewinnspannen und der Gewinn pro Aktie ihren Höhepunkt erreicht haben“.
Wilson glaubt nun nicht mehr, dass defensive Werte eine klare Outperformance aufweisen, weil es jetzt „schwieriger ist, sich zu verstecken“. Wie der Analyst aufzeigt, hat der US-Aktienmarkt den Anlegern in den letzten zwölf Monaten „in bestimmten Bereichen reichlich Gelegenheit geboten, selbst wenn die großen Indizes flach oder sogar rückläufig waren“.
An dieser Stelle klopft sich Wilson selbst auf die Schulter, denn er hat die Wendepunkte des Marktes im Verlauf des letzten Jahres richtig vorhergesagt. Seine Morgan Stanley Fresh Money Buy List hat den Aktienindex S&P 500 im vergangenen Jahr stark übertroffen. In den letzten zwölf Monaten ist diese Kaufliste um fast 19 Prozent gestiegen und hat damit den S&P 500 um 15 Prozent übertroffen.
Keine neuen Ideen
Allerdings räumt Wilson ein, dass „wir jetzt leider etwas ratlos sind, was neue Ideen angeht. Kurz gesagt, der Markt ist derzeit so durchwühlt, dass nicht klar ist, wo die nächste Rotation liegt.“ Das ist ein Problem, denn seiner Erfahrung führt das Fehlen einer klaren Rotation in der Regel dazu, dass fast alle Aktien im Gleichschritt stark fallen.
Auch wenn Wilsons Strategie seit November gut funktioniert, sieht er nun auch bei defensiven Aktien kein absolutes Aufwärtspotenzial mehr, was er als „ein weiteres Zeichen dafür sieht, dass die Anleger wissen, was auf sie zukommt“. Um sich so gut wie möglich auf den Bärenmarkt vorzubereiten, würden sie sich derzeit in solchen defensiven Aktien „verstecken“.
Ein weiteres wichtiges Signal des Marktes war zuletzt die schwache Entwicklung bei Energieaktien und vor allem bei Rohstoffaktien. Für Wilson „bedeutet dies, dass der Markt erkannt hat, dass wir jetzt in die Eis-Phase eintreten und dass das Wachstum von nun an die Hauptsorge für Aktien sein wird und nicht mehr die Inflation, die Fed und die Zinssätze“.
Ist der Höhepunkt erreicht?
Wilson glaubt, dass die Inflation und die Inflationserwartungen wahrscheinlich ihren Höhepunkt erreicht haben. Doch während andere dies als Argument für einen Bullenmarkt werten, sieht Wilson darin eine klare Warnung. „Das Problem ist, dass eine sinkende Inflation mit einem geringeren nominalen BIP-Wachstum und somit auch mit einem geringeren Umsatz- und Gewinnwachstum einhergeht“, so der Analyst.
Die Entwicklung bei einigen Rohstoffaktien deutet Wilson zufolge darauf hin, dass genau das bei den Rohstoffpreisen bevorstehen könnte. Dem Energie- und Rohstoffsektor könnte nun eine Periode der Underperformance bevorstehen, nachdem er zu den großen Gewinnern des bisherigen Jahres 2022 gehört hat.
„Wir befinden uns an einem wichtigen Wendepunkt für die Inflation, dem Spiegelbild unserer Aufforderung vom April 2020, eine höhere Inflation zu erwarten, als wir uns am Tiefpunkt der COVID-Rezession befanden“, so Wilson. Damals sagte er vollkommen korrekt voraus, dass die Inflation ein wichtiger Bestandteil der Erholung sein wird und dass dies zu einem extremen operativen Leverage und Gewinnwachstum führen wird.
Wilson ist der Ansicht, dass die Inflation für viele Sektoren und Unternehmen nun eher ein Problem darstellen wird, weshalb er sich in defensiven Werten und Aktien mit hoher operativer Effizienz positioniert hat. Mit anderen Worten: Der Aktienmarkt scheint den Höhepunkt der Inflation und ein insgesamt schwierigeres Ertragsumfeld vorauszuahnen.
Für Wilson deckt sich dies alles mit seiner Analyse, in der er den gegenwärtigen Zeitraum mit der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg vergleicht. Auf den explosionsartigen Anstieg der Inflation in dieser Zeit folgte rasch ein starker Rückgang. Die meisten Anleger scheinen auf diese Entwicklung nicht vorbereitet zu sein, obwohl der Aktienmarkt eindeutig darauf hindeutet, dass genau das passieren wird.
Darüber hinaus wird der Aktienmarkt, wenn die Indizes stärker fallen und es nur noch sehr wenige Möglichkeiten gibt, positive Renditen zu erzielen, einfach die oben beschriebenen disinflationären Kräfte verstärken. Für viele Segmente der Wirtschaft könnte es sich sogar deflationär anfühlen. Dies „wird sich durch Druck auf die Gewinnspannen und entgangene Gewinne bemerkbar machen“, so Wilson.
Nach Ansicht des Analysten sind auch viele der säkularen Wachstumsunternehmen anfällig für Gewinnenttäuschungen, da die Nachfrage nach vielen der von ihnen angebotenen Waren und Dienstleistungen wieder zurückgeht. Diese Unternehmen haben wahrscheinlich überdurchschnittlich von der COVID-Dynamik profitiert. Daher werden sie auch nicht immun gegen den Wachstumseinbruch sein. Sie könnten sogar schlechter dastehen.
Die COVID-Rezession war äußerst ungewöhnlich, weil sie durch Lockdowns und durch Homeoffice verursacht wurde. Wilson ist daher der Meinung, dass das Jahr 2000 nun einen besseren Fahrplan bieten könnte. Der Analyst erwartet eine leichte Rezession beim Umsatz mit Technologiewaren – sowohl bei den Konsumenten als auch bei den Unternehmen, selbst wenn die Gesamtwirtschaft eine Rezession vermeidet.
Doch selbst dieser vorsichtige Optimismus verheißt offensichtlich nichts Gutes für die Mehrheit der Wachstumsunternehmen, die ja den Gesamtindex insgesamt antreiben. Allein die fünf Konzerne Meta, Amazon, Apple, Microsoft und Google machten kürzlich ein Viertel der gesamten Marktkapitalisierung des S&P 500 aus.