Das Börsenjahr 2022 war nichts für schwache Nerven. Nach dem Boom 2021 sorgten Ukraine-Krieg, Energiekrise und Rekordinflation für einen Kursrutsch, der Leitindex Dax stürzte zeitweise unter 12 000 Punkte. Die Zinswende macht Sparbücher und Tagesgelder wieder attraktiv. Dennoch: Nie steckten mehr Menschen in Deutschland Geld in Aktien, Fonds und/oder börsengehandelten Indexfonds (ETFs) als im vergangenen Jahr. Mit 12,89 Millionen Aktionären wurde sogar der bisherige Höchststand aus dem Jahr 2001 (12,85 Mio) minimal übertroffen, wie das Deutsche Aktieninstitut (DAI) in Frankfurt errechnet hat. Ist das nach dem Rückgang 2021 nun die von Börsianern lange ersehnte Trendwende?
„2022 war ein sehr erfreuliches Jahres für die Aktienkultur in Deutschland“, bilanzierte die Chefin des Aktieninstituts, Christine Bortenlänger. Gemessen an der hiesigen Bevölkerung ab 14 Jahren war demnach knapp jeder Fünfte (18,3 Prozent) am Aktienmarkt engagiert.
Mancher Anleger habe wohl den Kursabschwung an den Aktienmärkten als günstige Gelegenheit zum Einstieg genutzt, während sich alte Börsen-Hasen von den Schwankungen nicht aus der Ruhe bringen ließen. Von 2021 auf 2022 erhöhte sich die Zahl der Aktiensparer hierzulande nach Berechnungen des Institut um knapp 830 000. Zur Wahrheit gehört allerdings, dass die DAI-Statistik seit dem Jahr 2020 auch ausländische Aktionäre mit Wohnsitz in Deutschland erfasst. Allein das sorgte seinerzeit für einen Anstieg um 500 000.
Den stärksten Anstieg binnen Jahresfrist gab es den Angaben zufolge bei den unter 30-Jährigen. Die Zahl der Aktionäre in dieser Altersgruppe legte im vergangenen Jahr um fast 600 000 oder 40 Prozent auf knapp 2,1 Millionen zu. Per Smartphone-App können auch kleine Geldbeträge rasch angelegt werden, Finanz-Influencer sprechen auf Kanälen wie Instagram, Tiktok und YouTube ein junges Publikum an. Das Aktieninstitut spricht gar von einem „Jugend-Boom“ an der Börse.
Eine Anfang Januar veröffentlichte Umfrage im Auftrag des Bundesverbandes deutscher Banken (BdB) bestätigt diesen Trend: Sieben von zehn Befragten im Alter von 18 bis 29 Jahren halten demnach Aktien zur Altersabsicherung für geeignet. Seit 2019 ist diesen Angaben zufolge unter jungen Erwachsenen in Deutschland der Anteil der Anleger von 38 Prozent auf 54 Prozent gewachsen.
Regelmäßig rechnet das Aktieninstitut in seinem «Renditedreieck» vor, wie sich zum Beispiel eine Anlage in Dax-Papiere über die Jahre in der überwiegenden Zahl der Fälle auszahle: „So konnte man beispielsweise bei einem Anlagezeitraum von 20 Jahren eine durchschnittliche Rendite von 8,6 Prozent im Jahr auf das angelegte Geld erwirtschaften. Im schlechtesten Fall lag die jährliche Rendite bei 3,3 Prozent, im besten bei 15,2 Prozent.“
Allein: Vielen Verbrauchern fehlt der lange Atem, den ein Investment an der Börse bisweilen braucht. Zudem bremsen aktuell die rasant gestiegenen Preise für Energie und Lebensmittel Sparer aus. In einer im Herbst veröffentlichten Umfrage im Auftrag der zum Deutsche-Bank-Konzern gehörenden Postbank gab mehr als jeder Zweite (53,9 Prozent) an, er könne derzeit weniger Geld auf die hohe Kante legen oder aktuell gar nichts sparen, weil stark gestiegene Ausgaben für das tägliche Leben das Haushaltsbudget aufzehrten.
„Eine wachsende Zahl Sparerinnen und Sparer verfügt nicht mehr über Mittel, die sie dauerhaft anlegen können“, konstatierte der Chef-Anlagestratege der Deutschen Bank für Privat- und Firmenkunden, Ulrich Stephan. „Und ein langfristiger Anlagehorizont ist bei Wertpapieren Pflicht, um Kursschwankungen abfedern zu können.“ Einen Absturz wie den der zuvor als „Volksaktie“ angepriesenen Telekom-Aktie kurz nach der Jahrtausendwende oder eine allgemeinen Kursrutsch wie in der Finanzkrise 2008 oder zeitweise während der Corona-Pandemie muss im Depot erstmal wieder wettgemacht werden.
Vier von zehn Menschen in Deutschland misstrauen Aktien grundsätzlich, wie eine im Dezember veröffentlichte YouGov-Umfrage im Auftrag der HDI Lebensversicherung ergab. Das Urteil der Skeptiker: Aktien seien zu riskant und zu kompliziert. Überraschend: Gleichzeitig lehnt demnach nur ein gutes Viertel (26 Prozent) die Geldanlage in Aktien grundsätzlich ab. Das Fazit der HDI angesichts solch widersprüchlicher Ergebnisse: Aufklärung sei dringend nötig.
„Bei aller Freude über die vielen neuen Anlegerinnen und Anleger in Aktien, Aktienfonds oder ETFs darf man nicht vergessen, dass noch immer zu wenig Menschen in Deutschland an den attraktiven Erträgen des Aktiensparens teilhaben“, meint auch Aktieninstitutschefin Bortenlänger. Die Aktionärsquote ist in anderen Industriestaaten teils deutlich höher, in Deutschland lag sie 2001 mit seinerzeit 20 Prozent auch noch etwas über dem jüngsten Jahreswert. In den USA etwa fördert der Staat die Altersvorsorge über den Kapitalmarkt stärker.
Die Bundesregierung müsse jetzt „liefern“, mahnt das Aktieninstitut. Tatsächlich will die Regierungskoalition mit einer „Aktienrente“ Neuland betreten: Weil Millionen Babyboomer im Rentenalter die Sozialkassen unter Druck setzen, wollen SPD, FDP und Grüne mit öffentlichen Milliarden einen Kapitalstock aufbauen, aus dessen Erträgen in etwa 15 Jahren Rentenbeiträge und Rentenniveau stabilisiert werden sollen. Das Aktieninstitut fordert zudem, mit Freibeträgen das private Aktiensparen attraktiver zu machen. Ob solche Initiativen die Börsen-Skeptiker überzeugen und die Zahl der Aktionäre in Deutschland weiter steigen lassen, müssen die nächsten Jahre zeigen.