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So massiv beeinflussen Kredite das globale Wirtschaftssystem

Lesezeit: 9 min
29.11.2021 20:12  Aktualisiert: 29.11.2021 20:12
Langfristig ist die Produktivität wichtig für das Wachstum einer Wirtschaft. Kurzfristig jedoch spielen Kredite die größere Rolle. Im zweiten Teil dieser Serie beleuchten wir verschiedene Schuldenzyklen und Möglichkeiten des Schuldenabbaus.
So massiv beeinflussen Kredite das globale Wirtschaftssystem
Der kurzfristige Schuldenzyklus wiederholt sich über Jahrzehnte immer wieder, wobei jeder Zyklus mehr Wachstum und auch mehr Schulden hervorbringt. Das liegt vor allem an der Neigung der Menschen, sich mehr Geld zu leihen, als sie zurückzahlen können. (Foto: Pixabay)

Ray Dalio gilt am Finanzmarkt als Investment-Legende. Er hat 1975 den Hedgefonds Bridgewater Associates mitbegründet und gilt mit einem Privatvermögen von rund 20 Milliarden Dollar einer der reichsten Menschen auf dem Planeten. Über die Jahre hat sich Dalio den Ruf erarbeitet, wirtschaftliche Trends und Zyklen im Voraus zu erkennen. So erkannte er unter anderem die Finanzkrise von 2008 früher als andere Marktteilnehmer. Dalio hält viele Vorträge über Wirtschaft und verbindet dabei fundiertes Fachwissen mit jahrelanger praktischer Erfahrung. Eines seiner Anliegen ist es, Menschen komplexe wirtschaftliche Zusammenhänge einfach und verständlich zu erklären. In seinem Erklärvideo „Wie die Wirtschaftsmaschine funktioniert“ geht er ausführlich auf die hier geschilderten Marktmechanismen ein. Basierend auf diesem Video haben wir uns im ersten Teil unserer Serie „Wie funktioniert unser Wirtschaftssystem?“ mit Transaktionen, Märkten und dem Wesen des Kredits beschäftigt.

Langfristig ist Produktivität wichtig für das Wachstum einer Wirtschaft. Kurzfristig jedoch spielen Kredite die größere Rolle. Denn die Produktivität der Wirtschaft wächst auf lange Sicht ungefähr gleich. Es gibt keine großen Schwankungen bei Innovationen. Dagegen erlauben Kredite einer Wirtschaft auch kurzfristige Wachstumsschübe. Kredite erlauben es einer Gesellschaft kurzfristig mehr zu konsumieren als zu produzieren. Darauf folgt jedoch auch eine Phase, in der die Gesellschaft weniger konsumieren kann als sie produziert, um die Schulden zurückzuzahlen. Daraus ergeben sich zwei Schuldenzyklen, die die Wirtschaft maßgeblich beeinflussen: der kurzfristige und der langfristige Schuldenzyklus. Diese beiden Zyklen sorgen für starke Schwankungen in der Wirtschaft mit den uns bekannten Auswirkungen von Konjunktur und Rezession. Werfen wir also einen genaueren Blick auf diese beiden Zyklen.

Kurzfristiger Schuldenzyklus

Das Kreditangebot führt zu Schwankungen in der Wirtschaft. Dabei ist Kredit per se nicht schlecht oder gut. Schlecht ist eine kreditfinanzierte Wirtschaft dann, wenn damit vor allem Überkonsum finanziert wird. Wenn Menschen Kredite aufnehmen, um sich damit neue Häuser oder Autos zu kaufen, erhöhen sie dadurch nicht ihr Einkommen. Ihr gewonnener Wohlstand ist auf Sand gebaut. Gleiches gilt für Unternehmen und sogar Nationen. Gut dagegen ist eine kreditfinanzierte Wirtschaft, die dadurch ein Einkommenswachstum erzeugt. Also beispielsweise ein Unternehmen, welches Kredite aufnimmt, um in den Ausbau seiner Produktion zu investieren. Zwar verschuldet sich das Unternehmen kurzfristig, doch mit guten Aussichten darauf, sein Einkommen langfristig zu erhöhen und damit auch seine Schulden zu tilgen.

Durch kurzfristige Kreditaufnahme entsteht der erste der beiden Schuldenzyklen. Dieser dauert zwischen fünf und acht Jahre an. Die erste Phase dieses Zyklus nennt man Expansion. In dieser Phase gibt ein günstiges Kreditangebot (also niedrige Zinsen) und eine starke Nachfrage nach Krediten. Das wiederum lässt die Ausgaben ansteigen, da Privatpersonen und Unternehmen nun über mehr finanzielle Mittel verfügen, um Konsum oder Investitionen zu tätigen. Die Wirtschaft erlebt eine Phase des Wachstums, auch Konjunktur genannt. Wenn nun die Ausgaben aber schneller steigen als die Produktion von Waren und Dienstleistungen in der Wirtschaft, steigen auch die Preise. Das Angebot kann die Nachfrage nicht decken und reagiert mit einer Preiserhöhung. Das wiederum führt zu Inflation. Dann schreitet meist die Zentralbank ein und erhöht die Leitzinsen, um eine noch höhere Inflation zu vermeiden. Hierdurch erhöhen sich wiederum die Zinsen für Kredite, also die Kosten für das Leihen von Geld.

Nun durchläuft der kurzfristige Schuldenzyklus die zweite Phase: die Regression. Die höheren Kreditzinsen führen zu einer geringeren Kreditnachfrage. Außerdem führen die höheren Zinsen dazu, dass Kreditnehmer mehr Geld in die Rückzahlung investieren müssen, was wiederum ihre Ausgaben für Konsum und Investitionen mindert. Und da – wie wir im ersten Teil dieser Serie gelernt haben – die Ausgaben des einen gleichzeitig die Einnahmen des anderen sind, verringern sich die Einkommen. Die Wirtschaft erlebt eine Phase der Schrumpfung, auch Rezession genannt.

Auf die geringeren Ausgaben der Menschen reagieren Produzenten von Waren mit niedrigeren Preisen. Das wiederum kann zu Deflation führen. Wieder schreitet in der Regel die Zentralbank ein und senkt die Leitzinsen. Dadurch beginnt der Zyklus von vorn. Der kurzfristige Schuldenzyklus wird also maßgeblich von der Zentralbank gesteuert.

Langfristiger Schuldenzyklus

Der kurzfristige Schuldenzyklus wiederholt sich über Jahrzehnte immer wieder, wobei jeder Zyklus mehr Wachstum und auch mehr Schulden hervorbringt, als der vorangegangene. Das liegt vor allem an der Neigung der Menschen, sich mehr Geld zu leihen, als sie zurückzahlen können. Sie geben das Geld aus, anstatt die Schulden zu tilgen. Dadurch steigen langfristig die Schuldenstände stärker als die Einkommen, was den langfristigen Schuldenzyklus erzeugt. Der langfristige Schuldenzyklus dauert zwischen 75 und 100 Jahre. In der ersten Phase der Expansion gewähren Kreditgeber immer freizügiger neue Kredite. Sie tun das, obwohl die Verschuldung bereits hoch ist und weiter steigt. Warum? Weil Menschen diese Zyklen nicht wahrnehmen, sondern immer nur die Phase sehen, in der sie sich gerade befinden. Und in der Phase der Expansion brummt die Wirtschaft. Die Einkommen steigen, Vermögenswerte gewinnen an Wert und der Aktienmarkt eilt von einem Hoch zum nächsten.

In dieser Phase lohnt es sich (scheinbar) Vermögenswerte anzuhäufen. Und einige Marktteilnehmer tun dies mit geliehenem Geld. Sie kaufen Vermögenswerte auf „Pump“. Wenn dieses Verhalten überhandnimmt, bilden sich Blasen in bestimmten Bereichen. Der Wert einer Vermögensanlage hat dann nur noch wenig bis nichts mit seinem tatsächlichen Wert zu tun, sondern leitet sich einzig und allein vom Glauben der Marktteilnehmer ab, dass die aktuelle Phase der Expansion ewig anhalten wird. Das ist so lange kein Problem, so lange die Schuldenlast im Gleichgewicht ist. Das bedeutet, dass nicht nur die Schulden, sondern auch die Einkommen steigen. Doch wenn die Schulden (und die damit verbundenen Tilgungskosten) schneller steigen als die Einkommen, endet die Phase der Expansion. Der langfristige Schuldenzyklus erreicht dann die Phase der Regression. Für Europa und die USA war dieser Punkt 2008 erreicht. Zuletzt hatten die USA und Europa diesen Punkt mit der Weltwirtschaftskrise 1929 überschritten. Was dann folgt, ist der gesellschaftliche Schuldenabbau – mit weitreichenden Folgen.

Nun sind die Menschen und Unternehmen dazu gezwungen, ihre Ausgaben zu kürzen, um die Schuldenlast wieder in den Griff zu bekommen. Das wiederum führt zu verringerten Einkommen, was auch die Kreditwürdigkeit senkt und zu einer geringeren Kreditvergabe führt. In dieser Phase verkaufen die Menschen ihre Vermögensanlagen wieder, um ihre Schulden abzubauen. Da die Einkommen allgemein jedoch niedrig sind und viele Menschen gleichzeitig versuchen, ihre Vermögenswerte zu verkaufen, fallen die Preise. Es entsteht eine sich selbstverstärkende Abwärtsspirale. Die Wirtschaft kühlt sich merklich ab, Aktienkurse fallen, Banken geraten unter Druck und soziale Spannungen in der Gesellschaft nehmen zu. Beim kurzfristigen Schuldenzyklus würde man nun von einer Rezession sprechen. Das würde die Zentralbank auf den Plan rufen, die die Leitzinsen senkt und damit die Kreditvergabe wieder ankurbelt. Doch der Unterschied zur Rezession ist, dass die Zinssätze beim Schuldenabbau bereits auf dem niedrigsten Niveau angekommen sind. Die Zentralbank kann sie nicht weiter senken. Denken Sie nur an die Phase nach der Finanzkrise 2008 bis heute. Die Zinssätze befinden sich in allen Industrienationen nahe (oder sogar unter) null. Auch nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 waren die Zinssätze in den 30er Jahren bei null.

Schuldenabbau durch Ausgabenkürzung oder Umschuldung

Wie kommt die Wirtschaft also aus dieser Talfahrt wieder heraus? Dazu gibt es vier Wege: Ausgaben kürzen, Umschuldung, Vermögensumverteilung und Geld drucken. In der Vergangenheit kamen alle vier Wege in unterschiedlichen Ländern zur Anwendung. In der Regel versuchen Gesellschaften zuerst ihre Ausgaben zu kürzen. Menschen, Unternehmen und auch der Staat fahren eine Sparpolitik. Da die Ausgaben gekürzt und keine neuen Kredite aufgenommen werden, könnte man erwarten, dass die Schuldenlast geringer wird. Doch das Gegenteil ist der Fall. Durch die Ausgabenkürzungen sinken auch die Einkommen und sie fallen meist schneller als die Tilgung der Schulden. Das verschärft das Problem sogar noch, wie man am Beispiel Griechenlands in der Eurokrise gut sehen konnte.

Griechische Unternehmen sahen sich gezwungen, Kosten einzusparen. Also wurden Stellen abgebaut und Mitarbeiter entlassen. Das wiederum erhöhte die Arbeitslosigkeit und senkt die Einkommen, was den Abwärtstrend weiter verschärfte. Da die Kreditnehmer nicht in der Lage sind, ihre Schulden zurückzuzahlen, geraten auch die Banken in Schwierigkeiten. Die Menschen fürchten nun, dass auch die Banken zahlungsunfähig werden, also versuchen sie in Panik, ihr Erspartes von den Bankkonten zu holen. Man spricht dabei von einem sogenannten „bank run“, einem Ansturm auf die Banken. Die nun in finanzielle Schieflage geratenen Banken können das ganze Wirtschaftssystem anstecken, da sie mit unzähligen Unternehmen verbunden sind. Geschieht dies, spricht man von einer Depression.

Um dieses Szenario abzuwenden, sind Kreditgeber mitunter bereit zu einer Umschuldung. Das bedeutet, dass Kreditnehmer einen geringeren Betrag zurückzahlen oder zu geringeren Zinsen, als ursprünglich vereinbart. Auch eine Rückzahlung über einen längeren Zeitraum ist eine Möglichkeit der Umschuldung. Wenn all diese Wege der Umschuldung nicht ausreichen, bleibt noch der Schuldenschnitt. Dabei wird ein Teil der Schulden vollständig erlassen. Der Kreditgeber schreibt sie als Verluste ab. Doch, obwohl die Schulden verschwinden, führt dieser Weg zum schnelleren Einkommens- und Vermögenswerteschwund. Denn genau wie Ausgabenkürzung ist auch dieser Weg deflationär und für die gesamte Wirtschaft schmerzhaft.

Umverteilung und Intervention der Zentralbanken als letzter Ausweg

Ein gesellschaftlicher Schuldenabbau wirkt sich auch auf die Ausgaben der Regierung aus. Die erhöhte Arbeitslosigkeit und die Schieflage vieler Unternehmen zwingen den Staat dazu, seine Sozialausgaben zu erhöhen und Hilfszahlungen für die angeschlagene Wirtschaft zu schnüren. Zugleich nimmt der Staat weniger Steuern ein, was zu einer Erhöhung des Staatsdefizits beiträgt. Woher soll also das Geld dafür kommen? Zum Beispiel von den Vermögenden. Das führt uns zum dritten Weg des Schuldenabbaus: der Umverteilung von Reich zu Arm. Dies geschieht in erster Linie durch höhere Steuern.

Einen anderen Weg haben wir in der Griechenland-Krise beobachten können, als vor allem vermögende Bankkunden herangezogen wurden, um die in Schieflage geratenen Banken zu retten (der sogenannte „Bail In“). Wenn diese Umverteilung ausbleibt, verstärken sich die Spannungen in der Gesellschaft und auch über Ländergrenzen hinweg (besonders zwischen Geber- und Schuldnerländern). Das kann im schlimmsten Fall sogar zum Krieg führen, wie die Folgen der Weltwirtschaftskrise von 1929 verdeutlichen.

Als letzter Ausweg bleibt nur der Eingriff der Zentralbank. Denn die Zentralbank hat die Macht über die Geldschöpfung. Und im Gegensatz zu den anderen drei Maßnahmen (Ausgabenkürzung, Umschuldung und Umverteilung) ist die Ausweitung der Geldmenge inflationär und wirkt stimulierend für die Wirtschaft. Die Zentralbank erschafft neues Geld und kauft damit die im Wert verfallenden Aktien und Anleihen am Finanzmarkt. So ist es etwa nach der Weltwirtschaftskrise 1929 und auch nach der Weltfinanzkrise 2008 geschehen.

Der Aufkauf der Aktien und Anleihen lässt die Kurse wieder steigen und steigert damit die Kreditwürdigkeit einiger Marktteilnehmer. Doch dieser Weg nutzt nur jenen, die Finanzanlagen besitzen, bevorteilt also wieder die Reichen gegenüber den Armen. Eine Möglichkeit, um das zu umgehen, ist die Kooperation zwischen Staat und Zentralbank. Die Zentralbank kann Geld drucken, aber damit nur Finanzanlagen kaufen. Der Staat kann auch Waren und Dienstleistungen kaufen, aber kein Geld drucken. Also druckt die Zentralbank das Geld und kauft damit Staatsanleihen. Sie leiht dem Staat das Geld, das jener dann unter der Bevölkerung verteilt.

Dieser Weg ist allerdings nicht ohne Risiko, denn die Ausweitung der Geldmenge kann die Inflation anheizen. Wenn ein Land nur auf die „Notenpresse“ setzt, um den Schuldenabbau zu bewerkstelligen, läuft es wie in Deutschland der 1920er-Jahre und führt im schlimmsten Fall zur Hyperinflation. Es kommt beim Schuldenabbau also darauf an, dass alle vier Wege im Gleichgewicht sind, sich deflationäre und inflationäre Maßnahmen also die Waage halten. So kann ein gesellschaftlicher Schuldenabbau gelingen.

Den ersten Teil der Serie finden Sie hier: „Wie funktioniert unser Wirtschaftssystem?“

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André Jasch ist freier Wirtschafts- und Finanzjournalist und lebt in Berlin.  

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