Die Wertpapierleihe sei zunehmend ein Auswahlkriterium für Anleger, berichtet der Mitarbeiter eines ETF-Anbieters am Telefon. Anbieter wie Lyxor oder SPDR verzichten deshalb bei ETFs auf den MSCI World darauf, Wertpapiere an Dritte gegen Gebühren zu verleihen. Auch Broker und aktiv gemanagte Fonds verleihen Aktien und Anleihen ihrer Kunden. Was Anleger bei der Wertpapierleihe beachten müssen.
Was ist eine Wertpapierleihe?
Manche Fonds oder Broker verleihen Wertpapiere der Anleger, um eine bessere Performance zu erzielen beziehungsweise die Verwaltungsgebühren zu senken. Der juristische Begriff lautet Sachdarlehensvertrag. Der Leihnehmer ist üblicherweise ein großer institutioneller Anleger, etwa eine Großbank wie die Société Générale. Die Wertpapierleihe dauert meist bloß wenige Tage.
Wie funktioniert das?
Der Leihnehmer zahlt nicht bloß eine Gebühr, sondern gibt auch Sicherheiten im Austausch für die geliehenen Wertpapiere. Dabei handelt es sich in der Regel um Staats- oder Unternehmensanleihen mit hoher Bonität oder Aktien aus OECD-Märkten. EU-Vorschriften legen fest, dass die Sicherheiten mehr wert sein müssen als die verliehenen Wertpapiere. Üblich ist eine Besicherungsquote von 105 bis 110 Prozent. Außerdem kontrolliert der Fondsanbieter täglich, ob der Wert der Sicherheiten gefallen ist. In diesem Fall müsste der Leihnehmer Sicherheiten nachschießen.
Der Leihnehmer tätigt mit den geborgten Aktien oder Anleihen einen Leerverkauf. Er veräußert also das Wertpapier auf dem Markt, um es später zu einem geringeren Kurs zurückzukaufen. Fällt der Kurs tatsächlich, macht der Leihnehmer einen Gewinn. Steigt der Kurs in der Zwischenzeit, fährt er Verluste ein.
Was viel Zusatzrendite bringt das?
Laut dem ETF-Experten Gerd Kommer pusht die Wertpapierleihe die Performance in der Regel um 0,1 Prozentpunkte und in seltenen Fällen um bis zu einem Prozentpunkt. Manche Anbieter geben an, bloß einen Teil der Gewinne aus der Wertpapierleihe an die Anleger weiterzugeben. Letztendlich spielt diese Ausschüttungsquote aber keine Rolle, weil die Anbieter miteinander im Wettbewerb stehen und gezwungen sind, die Gewinne weiterzureichen.
Wie verbreitet ist die Wertpapierleihe?
Laut der Verbraucherzentrale Hessen verleihen die meisten aktiven Fonds und ETFs Wertpapiere. Über aktuelle Zahlen verfügt der Finanzinformationsdienstleister Morningstar auf Anfrage nicht. Laut dem Vermögensberater Gerd Kommer betrieben im Dezember 2020 94 Prozent aller in Deutschland zugelassenen Aktien-ETFs Wertpapierleihe. Bei den Anleihen-ETFs war es bloß die Hälfte.
Was sind die Risiken der Wertpapierleihe?
Ein Leihnehmer kann theoretisch pleitegehen, wenn der Leerverkauf schief geht. Zwar kann die Fondsgesellschaft noch immer die Sicherheiten veräußern, um die verlorenen Wertpapiere wieder zu kaufen. Aber dazu darf der Wert der Sicherheiten nicht unter den Marktpreis der betreffenden Wertpapiere fallen. Dass das passiert, hält der Vermögensberater Sebastian Hell aber für wenig wahrscheinlich. Alles müsste nämlich am gleichen Tag passieren, „da täglich abgerechnet wird und die entliehenen Stücke wieder vom Risikomanagement-Team des Verleihers zurückgefordert werden können, wenn die Besicherung an Wert verliert“.
Außerdem haben die Fondsanbieter eine Reihe von zusätzlichen Sicherheitsnetzen aufgespannt. Große Emittenten wie Blackrock oder die Deutsche Bank lassen die Bonität der Leihnehmer prüfen und verleihen bloß an Anleger mit hohen Ratings. Oft setzen sie sich selbst Obergrenzen, wie viel Prozent des Fondsvermögens ausgeliehen werden dürfen. Etwa verleihen die Schweizer UBS und Xtrackers nie mehr als 50 Prozent des Nettoinventarwerts. Manche Anbieter versprechen zudem, etwaige Ausfälle aus eigener Tasche zu begleichen, zum Beispiel Xtrackers und Blackrock.
Und was ist mit einem Mega-Crash?
Die Bundesbank schreibt im Monatsbericht vom Oktober 2018, dass ein ETF in einem Extremszenario auch Verluste aus der Wertpapierleihe erleiden könnte. Zwar böten die Sicherheiten bei einem Ausfall des Leihnehmers weiteren Schutz. Außerdem schütze der EU-Rechtsrahmen durch Diversifikationsregeln, Gegenpartei-Limite, Transparenzregeln und Mindestanforderungen bezüglich der Qualität der hinterlegten Sicherheiten. Aber bei adversen Marktentwicklungen seien so starke Kursrückgänge möglich, dass die Überbesicherung nicht ausreiche und der Verleiher Verluste erziele. „Hierdurch könnte in extremen Szenarien ein allgemeiner Verkaufsdruck auf den ETF-Sektor ausgelöst werden, welcher die Preisrückgänge noch beschleunigen würde“, schreiben die Ökonomen der Bundesbank. Zusätzlich könne es zu einer Knappheit von Sicherheiten kommen, wenn viele Fondsanbieter und andere Marktteilnehmer ihre Wertpapiergeschäfte nicht mehr verlängerten.
Die Anbieter verweisen indes darauf, dass die Wertpapierleihe bislang immer gutgegangen sei. „Seit Beginn des Wertpapierleiheprogramms von Blackrock im Jahr 1981 haben wir für jeden Fonds, der an der Wertpapierleihe teilgenommen hat, ein positives Ergebnis aus der Wertpapierleihe erzielt“, schreibt Blackrock. Auch die Verbraucherzentrale Hessen erklärt auf Anfrage, dass es bislang noch nie vorgekommen sei, dass Sicherheiten wertlos wurden und gleichzeitig der Leihnehmer ausfiel – „auch nicht während der letzten Finanzkrise“. Dennoch lasse sich ein hundertprozentiger Schutz nie gewährleisten – das gelte für alle Anbieter und für aktiv gemanagte Fonds sowie ETFs.
Wertpapierleihe – ja oder nein?
Sebastian Hell betrachtet die Wertpapierleihe als „nicht kritisch“, wenn der ETF von einem namhaften Anbieter betrieben werde. Namhaft seien beispielsweise die größten Vermögensverwalter Blackrock und Vanguard, aber auch mittelgroße Anbieter wie die Deutsche Bank oder Lyxor. „Da die Wertpapierleihe die Finanzkrise, Eurokrise und den Corona-Crash überstanden hat, bin ich sehr entspannt, dass das System funktioniert“, sagt Hell, der den Youtube-Kanal „Hell investiert“ betreibt. Die Wertpapierleihe sei streng reguliert, überbesichert und bei manchen Anbietern sogar durch eine Zusatzgarantie gedeckt.
Was ist mit Brokern?
Bei einem Broker sieht Hell die Wertpapierleihe indes kritischer. Hier würde er die AGBs darauf prüfen, ob diese eine Wertpapierleihe gestatten, und nochmals explizit beim Kundenservice nachfragen, ob eine Wertpapierleihe mit Papieren aus dem Depot erfolgen dürfe. „Der Grund ist, dass ich einem spezialisierten Risiko-Team bei Blackrock, welches tagtäglich Wertpapiere verleiht, besichern lässt und darauf achtet, dass maximal 10 Prozent des ETFs überhaupt verliehen sind, mehr zutraue, als einem weniger erfahrenen Risiko-Team bei einem kleinen Broker, wo zudem die Leihe meist sehr intransparent ist“, erklärt Hell.
Auf was sollten Anleger achten?
Fondsanbieter und Depotverwalter machen auf ihrer Internetseite oder im Fondsprospekt Angaben über die Leihgeschäfte. Anleger sollten prüfen, welche Sicherheiten der Verleiher nimmt, wie viel Prozent des Fondsvermögens er verleiht, wie hoch die Besicherungsquote ist (zum Beispiel 105 Prozent), wie hoch die Kosten und Gewinne aus der Wertpapierleihe sind und an wen das Unternehmen die Wertpapiere leiht. Wer auf Nummer sicher gehen will, kann die Wertpapierleihe auch ausschließen. Über Suchmaschinen wie justetf.com können sich Anleger anzeigen lassen, welche Fonds Wertpapiere nicht verleihen.