Wer in Deutschland unter den steigenden Preisen für Energie und Nahrungsmittel ächzt, reibt sich beim Blick in die Schweiz die Augen: Strom, Brot, Gemüse - alles fast wie immer. Die Verbraucherpreise sind im Juni im Jahresvergleich gerade Mal um +3,4 Prozent gestiegen. Für die Schweiz ist das zwar die höchste Rate seit 1993. In Deutschland aber lag sie nach erster Schätzung bei satten +7,6 Prozent, in der Eurozone sogar bei +8,6 Prozent.
Die Inflationsrate wird in der Schweiz zwar etwas anders berechnet als in der Eurozone. Zur besseren Vergleichbarkeit geben die Schweizer aber auch den in der Eurozone üblichen harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) an, dessen Anstieg im Juni mit +3,2 Prozent sogar noch niedriger lag. In Deutschland dagegen war dieser Anstieg mit +8,2 Prozent sogar noch höher.
Ursache ist unter anderem die straffere Geldpolitik der Schweizer Nationalbank. Während die EZB ihre Bilanzsumme seit 2019 um +90 Prozent ausgeweitet hat, ist die Vermögensaufstellung der Schweizer Nationalbank bloß um +20 Prozent gestiegen. Darum klettern die Preise nicht bloß langsamer, sondern der Schweizer Franken wertet auch gegenüber anderen Währungen auf. Etwa hat er gegenüber dem Euro seit 2019 rund +12 Prozent an Wert gewonnen. „Wenn der Schweizer Franken aufwertet, werden importierte Güter für Verbraucher billiger“, sagt Alexander Rathke von der Konjunkturforschungsstelle der Universität ETH. Laut Rathke profitieren die Schweizer außerdem von hohen Importzöllen auf Lebensmittel und Agrarprodukte sowie von Preiskontrollen bei Strom und Gas.
Importzölle verbilligen Lebensmittel in der Krise
Thema Lebensmittel: Während die Lebensmittelpreise in der Eurozone und den USA im Jahresvergleich um etwa zehn Prozent gestiegen sind, waren sie in der Schweiz fast konstant. „Durch die protektionistischen Maßnahmen sind die Schweizer Nahrungsmittelpreise von der Entwicklung auf dem Weltmarkt abgekoppelt“, sagt Maxime Botteron, Analyst der Bank Credit Suisse. Die Schweizer heben den Preis für ausländische Agrarprodukte, die auch im Inland hergestellt werden, durch Importzölle auf das höhere Schweizer Niveau, um heimische Getreide-, Obst- und Gemüsebauern vor ausländischer Konkurrenz zu schützen. „Wenn der Preis für Güter, die wir selber produzieren, am Weltmarkt steigt, sinkt nur der Zoll“, sagt Rathke.
Allerdings zahlen die Schweizer in Zeiten ohne Krisen auch einen hohen Preis: „Die Preise sind zwar jetzt stabiler, dafür ist das Preisniveau aber auch sonst immer höher“, sagt Rathke. Für Lebensmittel, die in den Nachbarländern zehn Euro kosten, seien in der Schweiz umgerechnet 18 Euro fällig. Weil 2021 die Schweizer Ernte schlecht war und in dem Fall fehlendes Getreide, Obst und Gemüse ohne hohe Importzölle importiert werden konnte, gab es sogar Schnäppchen: „Weil Tomaten aus Spanien und andere Nahrungsmittel aus dem Ausland billiger sind, fielen die Preise“, sagt Botteron.
Thema Energie: Die Schweiz deckt ihren Strombedarf fast ganz aus Wasser- und Atomkraft, während in Deutschland viel Strom mit Gas produziert wird. Nur im Winter muss die Schweiz Strom importieren, dann könnten sich höhere europäische Preise auswirken. Verbraucher merkten das aber nicht sofort, sagt Botteron, weil Stromversorger den Preis in der Regel einmal pro Jahr festlegen. „Das verzögert den inflationären Effekt.“
Energie und Lebensmittel haben weniger Gewicht bei Inflationsmessung
Hinzu kommt, dass die Warenkörbe sich unterscheiden, anhand derer die Inflation berechnet wird. Sie richten sich danach, wie viel Geld die Menschen im jeweiligen Land im Durchschnitt für welche Produktkategorie ausgeben. Im Schweizer Warenkorb machen Energiekomponenten wie Erdöl, Strom und Gas nur fünf Prozent aus, während es in Deutschland knapp zehn Prozent und in den USA sieben Prozent sind. Der Anstieg der Weltmarktpreise bei Öl und Gas befeuern die Inflation in der Schweiz deshalb weniger.
Dasselbe gilt für Lebensmittel. In der Schweiz liegt ihr Anteil im typischen Warenkorb bei 11,5 Prozent, in den USA bei 13 Prozent und in der Eurozone bei 15 Prozent. „Je wohlhabender die Menschen sind, desto kleiner der Anteil, den sie für Nahrungsmittel ausgeben“, sagt Rathke. Im Schweizer Konsumentenpreisindex schlägt dagegen die Gesundheitspflege mit fast 17 Prozent zu Buche, während es in den USA nur rund 8,5 und in der Eurozone rund 5 Prozent sind.
Schließlich gibt es strukturelle Gründe für die niedrigere Inflationsrate: Tendenziell sinken die Preise in der Schweiz eher, vor allem für Medikamente, aber auch für Möbel und Bekleidung, oder sie steigen zumindest nicht so stark wie in der Eurozone. Das liegt unter anderem am Online-Handel, der inländische Händler unter Druck setzt, wie Botteron sagt: „In der Tendenz gibt es eine Anpassung in Richtung des Preisniveaus in der Eurozone.“ So gesehen ist eine Inflationsrate von um die drei Prozent für die Schweiz ein „extrem hoher Wert“, sagt Rathke.
Steuerwettbewerb statt Rekordverschuldung
Außerdem gibt es in der Schweiz Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen. Jeder Landesteil versucht, die Steuern gering zu halten, um möglichst viele Unternehmen und reiche Bürger anzuziehen. Das diszipliniert wiederum die öffentlichen Haushalte, nicht zu viele Schulden zu machen. In der Eurozone steigt derweil die Verschuldung immer weiter an. Die Staaten finanzieren die Schulden über die Ausgabe neuer Staatsanleihen, die zum großen Teil von der EZB gekauft werden. Dabei schöpft die Zentralbank neues Geld, das wiederum die Preise erhöht. (dpa/eli)