Die Aussage von Augustín Carstens erinnert an den Roman 1984 von George Orwell. „Zum Beispiel wissen wir beim Bargeld nicht, wer heute eine 100-Dollar-Note nutzt, oder einen 1000-Peso-Schein“, erklärte der Chef der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich im Jahr 2020.
Weiter sagte der Mexikaner: „Ein entscheidender Unterschied [von Bargeld] zum digitalen Zentralbankgeld ist, dass die Zentralbanken absolute Kontrolle über die Regeln und Regulierungen haben werden, die die Nutzung [des digitalen Zentralbankgelds] regeln. Und wir werden auch die Technologie haben, das durchzusetzen.“ Ist ein Bargeldverbot ein realistischen Szenario auf absehbare Zeit - und gäbe es in einer bargeldlosen Welt noch Schlupflöcher, um anonym zu bezahlen?
Wie verbreitet ist Bargeld noch?
Bargeld wird derzeit zwar von digitalen Zahlweisen verdrängt, ist aber nicht komplett auf dem Rückzug. Experten sprechen vom „Paradox des Bargelds”. Die Nachfrage nach Bargeld steigt, obwohl die Menschen im Einzelhandel seltener bar bezahlen. Laut EZB-Zahlen wuchs die wertmäßige Umlaufmenge im Mai um +7,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Dabei ist der wertmäßige Umlauf des 500-Euro-Scheins seit dem Jahr 2019 rückläufig, weil die EZB in diesem Jahr die Ausgabe und Produktion eingestellt hat. Laut der Zentralbank wird bloß ein Fünftel der Euro-Scheine für Transaktionen verwendet - der Rest dient als Wertspeicher oder deckt die Nachfrage nach Euro-Devisen in anderen Währungsräumen.
Gleichwohl verschwindet Bargeld insbesondere seit der Corona-Krise zunehmend aus dem Einzelhandel. Laut einer aktuellen Umfrage der Postbank zahlen bereits 60 Prozent der Deutschen mit Smartphone, Karte oder beidem. Laut einer Bundesbank-Studie wurden im Jahr 2020 61 Prozent aller Transaktionen bar abgewickelt. Zum Vergleich: Im Jahr 2014 waren es noch 79,1 Prozent gewesen, im Jahr 2007 sogar 82,5 Prozent.
Bislang nehmen vor allem staatliche Stellen kein Bargeld mehr an - etwa öffentliche Busse in Berlin und Dresden. Dahinter steckt System: Bereits im Jahr 2018 berichtete der Tagesspiegel über ein internes Papier der Bahn, das die „Realisierung aus dem Ausstieg des Automatengeschäfts bis 2023“ vorsah. Der Anteil des Automatengeschäfts am Gesamtvertrieb solle bis 2023 von einem Viertel auf 2 Prozent sinken, wie ein Bahn-Sprecher erklärte. Auch die Stadt Dresden schaffte die Möglichkeit, bar zu bezahlen, in den Jahren 2019 und 2020 in acht Bürgerbüros ab.
Aber auch die Geschäftsbanken bauen immer mehr Geldautomaten ab: Die Zahl ist seit dem Rekordhoch aus dem Jahr 2016 rückläufig. Laut dem Bankenverband sank sie im Jahr 2020 bundesweit um -2,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Wohin die Reise gehen könnte, zeigt Schweden: Dort soll Bargeld bis zum Jahr 2023 ganz aus dem Einzelhandel verschwunden sein, wie der schwedische Handelsrat prognostiziert. „Schweden bewegt sich ziemlich schnell aufs Bargeldlose zu - es gibt zum Beispiel Kinder, die wissen mit Münzen nichts mehr anzufangen“, sagte Henrik Palmer, der Verkaufschef des Öffentlichen Verkehrsbunds Stockholm, gegenüber ntv.
EZB sieht Digitaleuro als „Ergänzung”
Die EZB beteuert indes, Bargeld nicht abschaffen zu wollen - zumindest vorerst. Bargeld werde „auf absehbare Zeit“ gängiges Zahlungsmittel bleiben, heißt es auf der Internetseite. Und weiter: „Kontaktlose Zahlungen werden Bargeld als Zahlungsmittel nicht ersetzen, sondern ergänzen.“ Gleichwohl möchte die EZB bis 2023 einen ersten Prototypen des digitalen Euro fertig stellen, der bis 2026 betriebsbereit sein soll. Und die EU bereitet gerade eine europaweite Bargeldobergrenze von 10.000 Euro vor, die laut Beobachtern anschließend weiter gesenkt werden könnte.
Kritiker haben denn auch Zweifel an den Aussagen der EZB und EU-Staaten. Etwa kam es im vergangenen Jahr zum Eklat zwischen Esta, dem Verband der Bargeldbranche, und der EZB. Esta-Vertreter verließen eine EZB-Arbeitsgruppe, die den Zugang und mögliche Hindernisse der Bargeldnutzung diskutieren sollte. „Es ist kaum zu erwarten, dass sich der ERPB ernsthaft mit Bargeldproblemen befasst, da der Fokus seiner konstituierenden Mitglieder sehr darauf liegt, es loszuwerden“, schrieb der Bargeldverband in einer späteren Stellungnahme.
Esta sei Teil der Arbeitsgruppe gewesen, entschied sich jedoch, nach zwei Monaten zu gehen, berichtet Esta-Generalsekretär Thierry Lebeaux gegenüber Altersvorsorge Neu Gedacht. Es habe sich als unmöglich erwiesen, die wichtigsten Agenda-Punkte des Verbands auf die Tagesordnung zu bringen. Lebeaux sieht gleichwohl eine bargeldlose Gesellschaft nicht als unmittelbare Gefahr, denn Ziel der Bargeldgegner sei bloß weniger Bargeldnutzung. „Es ist jedoch nicht klar, wie sich dies langfristig unterscheidet: Bargeld ist ein volumengesteuertes Geschäft, und wenn nicht eine kritische Masse an Bargeld im Umlauf gehalten wird, kann der Bargeldkreislauf nicht mehr aufrechtzuerhalten sein“, erklärt Lebeaux. Wer glaube, dass Bargeld bloß als Notlösung dienen könne, wenn Kartenzahlungen nicht mehr funktionierten, täusche sich. Dies würde auch zunehmend von Regierungen erkannt, sagt er. Etwa habe Spanien gerade ein Gesetz verabschiedet, dass die Verweigerung von Bargeldannahme zu einem Rechtsverstoß mache.
Wer hat ein Interesse an der Bargeldabschaffung?
Profitieren würden vor allem der Staat und Zahlungsdienstleister wie Paypal oder Mastercard. Der Staat hätte viel mehr Kontrolle über den einzelnen Bürger. Etwa ließe sich unerwünschter Konsum beschränken, zum Beispiel von Zigaretten, Fleisch oder ungesunden Lebensmitteln. Steuerhinterziehung würde erschwert. Wer gegen die Regierung demonstriert oder sonst wie politisch aktiv ist, dem könnte die digitale Wallet gesperrt werden. Ähnliches passierte erst im Februar in Kanada, als bis zu 50.000 Trucker gegen die Corona-Maßnahmen der kanadischen Regierung demonstrierten und den LKW-Fahrern die Konten eingefroren wurden.
Gleichzeitig würden sich tiefere Negativzinsen durchsetzen lassen, wodurch sich der Staat noch günstiger am Kapitalmarkt refinanzieren könnte. Hinter der Abschaffung des 500-Euro-Scheins stehe die Absicht der EZB, Bargeldhortung in Tresoren durch die Geschäftsbanken zu verhindern, erklärt deswegen der VWL-Professor Hans-Werner Sinn und fügte auf seinem Blog hinzu: „Wenn die Banken nun gezwungen werden, statt der 500-Euro-Scheine die etwas kleineren 200-Euro-Scheine zu halten, steigen die Tresorkosten etwa auf das Zweieinhalbfache.“ So könne die EZB den Einlagenzins auf -0,75 Prozent senken. Derzeit liegt der Einlagenzins bei -0,5 Prozent.
Bringt die Bargeldabschaffung etwas?
Laut einem Ökonomen, der über Schwarzmärkte forscht, gibt es keinen wissenschaftlichen Beweis, dass eine Bargeldabschaffung zu weniger Kriminalität oder Terrorismus führt. „Bargeld ist nicht die Ursache dafür, dass jemand kriminell ist“, erklärt der Mann gegenüber Altersvorsorge Neu Gedacht. Es gebe auch keinen statistischen Zusammenhang zwischen Kriminalität und Bargeldnutzung - es herrsche also nicht mehr Kriminalität an Orten, an denen Bargeld vermehrt genutzt werde.
„Wir schauen alle zu viel Tatort”, sagt der Volkswirt. Einen Geldkoffer verwendeten Kriminelle so gut wie nie - das sei viel zu risikoreich. Bargeld fließe allenfalls bei Kleinkriminalität wie Hehlerei oder Drogenverkauf. „Große Drogenkartelle und andere professionelle Kriminelle arbeiten mit Scheinfirmen für Import und Export. Dabei werden Hafenpapiere gefälscht, Hafenmitarbeiter bestochen oder Zahlungen über sehr viele Konten rund um die Welt geschickt.“
Zwar sei richtig, dass die Wartung und Produktion von Bargeld teuer sei. Aber auch elektronische Zahlungsmittel seien keineswegs sicher, erklärt der Schwarzmarkt-Experte. „Im Rahmen meiner Forschungen habe ich einmal selbst eine Karte gehackt und war erstaunt, wie leicht sich das bewerkstelligen lässt.“
Ein weiteres Argument, das unter anderem die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich anführt: Wenn Bürger ihre Zahlungen gegenüber Banken gläsern machen, würden insbesondere arme Haushalte leichter an Kredite herankommen. Diese könnten potenziellen Kreditgebern mehr Informationen über sich geben, was den Nachteil von fehlenden Sicherheiten wett machen könne.
Eine Studie von US-Wissenschaftlern kam indes zum exakt gegenteiligen Schluss. Demnach würden gerade einkommensschwache Haushalte weniger Darlehen erhalten, wenn Banken mithilfe von Algorithmen-gesteuerten Kreditratingsystemen und umfangreichen Zahlungsdaten Darlehen zuteilten. „Wir stellen fest, dass schwarze und hispanische Kreditnehmer mit unverhältnismäßig geringerer Wahrscheinlichkeit von der Einführung des maschinellen Lernens profitieren“, schreiben sie.
Könnten Verbraucher ohne Bargeld noch anonym bezahlen?
Experten halten es indes für unwahrscheinlich, dass private Kryptowährungen Bargeld ersetzen könnten. „Wir haben derzeit keine funktionierenden, wertstabilen Kryptowährungen, die Anonymität garantieren“, sagt etwa der Schwarzmarkt-Experte. Die Technologie stecke noch zu sehr in den Kinderschuhen. Falls die Staaten das Bargeld komplett abschafften, wäre die Anonymität beim Bezahlen ganz verloren. Jeder Bezahlvorgang wäre ersichtlich - ein Stück individuelle Freiheit wäre verloren.
Auch Norbert Häring sieht wenige Schlupflöcher in einer bargeldlosen Welt. „Für normale Menschen, die lediglich ihre Privatsphäre schützen möchten, wird das Ausweichen wahrscheinlich zu aufwendig sein“, sagt Häring. Kleinkriminelle wie etwa Drogenhändler würden eine Ersatzwährung wie Zigaretten brauchen, die sehr teuer und haltbar seien. Großkriminelle würden wahrscheinlich auf Kreditketten und gefälschte Rechnungen setzen.
Derzeit arbeiten Startups wie Tixl an Privacy Coins, also an Kryptowährungen mit besonders hoher Anonymität. Existierende Privacy Coins eigneten sich jedoch noch nicht zum Abwickeln von Zahlungen im Einzelhandel, wie Tixl-Chef Christian Eichinger gegenüber btc-echo erklärt. „Neben der aktuell allgemein noch geringen Adoption von Kryptowährungen liegt das vor allem auch daran, dass die Transaktionen viel zu langsam sind und zum Beispiel am Point of Sale nicht sinnvoll genutzt werden können.“ Zudem erkennt auch er das regulatorische Risiko an, dass Staaten den Handel mit Privacy Coins verbieten könnten, sodass sich die Coins wohl nicht in der Breite durchsetzen würden.